EuGH zur Frage der „privaten“ Normen
Mit dem Satz „Unsere Gesetze sind nicht allgemein bekannt, sie sind Geheimnis der kleinen Adelsgruppe, welche uns beherrscht“ beginnt eine skurrile Parabel von Kafka namens „Zur Frage der Gesetze“. So ganz ohne Realitätsbezug ist diese fiktive Erzählung nicht. Denn die heutige technisierte Welt oft weniger durch frei zugängliche Parlamentsgesetze beherrscht als durch technische Normen. Und diese sind bisher urheberrechtlich geschützt, so dass der Zugang zu ihnen beschränkt ist.
Technische Normen werden in kleinen, der Öffentlichkeit typischerweise unzugänglichen Expertenrunden erstellt. Berühmt ist die Internationale Standardisierungsorganisation (ISO). Im Verkehrsbereich entspricht dem in Deutschland die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen e. V. (FGSV). Und deren Produkte, die technischen Normen, sind mitnichten frei zugänglich. Sie haben ihren Preis und der ist hoch genug, um durchschnittliche Privatleute faktisch vom Zugang auszuschließen. Denn wer wissen will, ob der neue Radweg zur Schule seiner Kinder nach den Regeln der Ingenieurskunst geplant wurde, sollte in die „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“ (ERA) schauen. Und die kosten – egal, ob gedruckt oder elektronisch - immerhin 64,80 Euro. Das ist vielleicht nicht die Welt, aber für Leute, die nur mal einen Blick riskieren wollen, dennoch zu teuer.
Bezüglich harmonisierter technischer Normen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in einer Grundsatzentscheidung ein Recht auf freien Zugang eingeräumt. Denn diese seien Teil des EU-Rechts und Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des freien Zugangs zum Recht geböten dies. Für die FGSV oder das Deutsche Institut für Normung (DIN) gilt diese Rechtsprechung nicht. Denn der EuGH kann ja nur für Europäisches Recht sprechen. Die Argumente des EuGH ließen sich aber auf das deutsche Recht übertragen. Dafür müsste aber anerkannt werden, dass es sich bei technischen und planerischen Normen um Recht handelt, da sie oft entscheidend sind für die konkrete Verwirklichung und Ausgestaltung von Grundrechten. (Olaf Dilling)
Wer ist denn hier der Letztverbraucher? Zu LG Bayreuth, Urt. v. 30.11.2023 – 1 HK O 30/23
Die Konstellation ist eigentlich simpel: Ein Unternehmen kauft Strom bei einem anderen, verkauft diesen an ein drittes Unternehmen, und zwar mit Erfüllungsort an der Netzentnahmestelle des Dritten. Im Anwendungsbereich des EnWG ist damit auch alles tutti: Der Zwischenhändler ist Lieferant, sein Kunde Letztverbraucher. Nur im StromPBG gibt es Zweifel, wie die Rechtslage zu beurteilen ist, denn die Definitionen im StromPBG sind nicht ganz deckungsgleich mit der im EnWG: Der Letztverbraucher kann im StromPBG auch für den fremden Verbrauch entnehmen, der Begriff des Elektrizitätsversorgungsunternehmens ist mit der Lieferung „über ein Netz“ verbunden.
Doch was heißt das nun für die beschriebene Konstellation der Versorgung über einen Zwischenhändler, der nicht selbst einen Netznutzungsvertrag unterhält, sondern durch seinen Vorlieferanten liefern lässt? Das Wirtschaftsministerium und mit ihm auch die Übertragungsnetzbetreiber meinen, dass der Zwischenhändler der Letztverbraucher sei. Er sollte also die Entlstung bekommen, die Erstattung stünde dem Vorlieferanten zu.
Für die betroffenen Unternehmen ist das keine rein technische Frage. Denn wenn es auf das Vertragsverhältnis zwischen Vorlieferant und Lieferant ankommt, ist Ausgangspunkt der Entlastung nicht der Strompreis des Kunden, der den Strom am Ende physikalisch verwendet. Selbst wenn er die Entlastung vom Zwischenhändler durchgereicht bekommt, fällt seine Entlastung geringer aus als in „klassischen“ Versorgerverhältnissen. Und zu alledem sind BMWK und ÜNB auch noch davon überzeugt, dass der Kunde am Ende der Kette eigentlich gar keinen Entlastungsanspruch hat. Sein Zwischenhändler bekäme also die Entlastung, ohne sie weitergeben zu müssen.
Nicht nur deswegen ist diese Rechtsansicht umstritten. Kann das wirklich sein? Wird „über ein Netz“ wirklich nur dann geliefert, wenn der Lieferant selbst einen Netznutzungsvertrag abgeschlossen hat? Schließlich steht davon gar nichts im Gesetz. Entsprechend ist es nicht überraschend, dass ein erstes Urteil in dieser Sache die Lage nun anders beurteilt: Das LG Bayreuth hat mit Urt. v. 30.11.2023, 1 HK O 30/23, entschieden, dass das StromPBG nur Netze gegen Kundenanlagen abgrenzt, den Netzbegriff also voraussetzt und keinen eigenen kreiert. Letztverbraucher sei das Unternehmen am Ende der Lieferkette, das auch im EnWG Letztverbraucher ist. Sein Lieferant entlastungsverpflichtet und erstattungsberechtigt.
Wir finden: Das LG Bayreuth liegt richtig. Es geht auch aus der amtlichen Begründung hervor, dass der Gesetzgeber keineswegs Kunden, die nichts von der Rollenverteilung zwischen ihrem Versorger und dessen Vorlieferanten wissen, den Entlastungsanspruch vorenthalten wollte. Auch systematisch spricht alles dafür, dass das StromPBG auf die Strukturen und Begrifflichkeiten des EnWG aufsetzt. Wir sind gespannt, wie andere Gerichte und der Instanzenzug entscheidet (Miriam Vollmer).
Schadenersatzklagen gegen Stromio und gas.de – Befangenheitsanträge in neun Verfahren!
Gegen die beiden Energieversorger gas.de Versorgungsgesellschaft mbH und Stromio GmbH sind derzeit diverse Schadenersatzklagen beim Landgericht Düsseldorf anhängig (wir berichteten). Streitgegenstand sind Schadenersatzansprüche von Letztverbrauchern, denen die beiden Versorger mit Sitz in Kaarst Ende 2021 und Anfang 2022 fristlos die Energielieferverträge gekündigt hatten.
In drei Verfahren wurde der Versorger Stromio auch bereits zur Zahlung von Schadenersatz verurteilt. Die Entscheidungen sind noch nicht rechtskräftig.
In insgesamt neun dieser Klageverfahren haben Stromio und gas.de nun Ablehnungsgesuche nach § 42 ZPO wegen der Besorgnis der Befangenheit der gegen drei Richter der für die Verfahren zuständigen Zivilkammer 14d des Landgerichts Düsseldorf gestellt. Die Befangenheitsanträge wurden 2 Tagen vor dem vom Gericht angesetzten Termin zur mündlichen Verhandlung am 22. Februar 2024 eingereicht und hatten eine Aufhebung des Verhandlungstermins zur Folge, da nun zunächst über die Befangenheitsanträge entschieden werden muss.
Begründet wurden die 5 Befangenheitsanträge von Stromio und 4 Befangenheitsanträge von gas.de wortgleich mit einem angeblichen Misstrauen gegen die Unparteilichkeit der mit den Verfahren befassten Richter, aufgrund der Einlassungen der Zivilkammer 14d in Hinweisbeschlüssen zu den Verfahren.
In den Hinweisbeschlüssen hatte die Zivilkammer jeweils mitgeteilt:
„Die Klage dürfte nach derzeitigem Sach- und Streitstand auch in der Sache Aussicht auf Erfolg haben.“
und dies auch jeweils unter Bezugnahme auf die Einwände der Beklagten Versorger umfassend begründet. Die ZfK berichtete darüber. Ob im Rahmen der Begründung nun Anzeichen für eine angebliche Befangenheit des Gerichts erkennbar waren, müssen nun andere Richter entscheiden, bevor das Verfahren fortgesetzt werden kann.
Über den weiteren Fortgang der Verfahren werden wir berichten.
(Christian Dümke)
Nitrat, DUH & die Ems
Die Ems ist ein Fluss, der vor allem dadurch bekannt ist, dass die Meyer Werft aus dem niedersächsischen Papenburg immer mal wieder große Kreuzfahrtschiffe über sie in Richtung Meer bringen muss. Hierfür heißt es „Baggern & Stauen“. Zusätzlich zu Erhaltungs- und Bedarfsbaggerungen gibt es an der Emsmündung bei Gandersum das Emssperrwerk, das ebenfalls dabei hilft, für die postpanamax Kreuzfahrtriesen die nötige Underwater Keel Clearance zu erzielen. Die Ems und das Naturschutzrecht haben in der Vergangenheit schon den EuGH beschäftigt (Papenburg-Urteil). Nun geht es um Nitrat in der Flussgebietseinheit Ems, die sich über Niedersachen, Nordrhein-Westfalen aber auch die Niederlande erstreckt.
Während wir in der letzten Woche davon berichteten, dass die DUH mit einer Klage gegen Maßnahmenpläne zur Einhaltung der Ziele der Nitratrichtlinie wegen der Präklusion vor dem OVG Münster keinen Erfolg hatte, sah es vor dem OVG Niedersachsen im November 2023 mit Blick auf die Flussgebietseinheit Ems anders aus. Das OVG entschied, dass Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ihr wasserrechtliches Maßnahmenprogramm für den deutschen Teil dieser Flussgebietseinheit so zu ändern haben, dass dieses die erforderlichen Maßnahmen enthält, um den Grenzwert für Nitrat schnellstmöglich zu erreichen, eine Verschlechterung des chemischen Zustands durch eine Zunahme der Nitratbelastung zu verhindern und alle menschlich verursachten signifikanten und anhaltenden Trends einer Steigerung der Konzentration von Nitrat umzukehren. Es sind also dicke Bretter zu bohren.
Ein Problem für die Flussgebietseinheit Ems ist die intensive Tierhaltung und Ackernutzung – Wir erinnern uns an die Bauernproteste gegen Nitrat-Vorgaben in den letzten Jahren (hier und hier). So wird der – seit 2015 (!) einzuhaltende – gesetzliche Schwellenwert für Nitrat im Grundwasser von 50 mg/l an vielen Messstellen deutlich überschritten. Die DUH hielt das aufgestellte Maßnahmenprogramm (§ 82 Wasserhaushaltsgesetz) für unzureichend und forderte mit seiner diesbezüglich erhobenen Klage geeignete Maßnahmen zur Verminderung der Nitratbelastung des deutschen Teils der Flussgebietseinheit Ems – mit Erfolg.
Die Lüneburger Richter folgten der Einschätzung, dass das bisherige Maßnahmenprogramm Defizite aufweise, aufgrund derer die beklagten Länder zur Überarbeitung verpflichtet seien. Fristverlängerungen seien zwar möglich, aber nicht ordnungsgemäß erfolgt. Zudem gibt’s auch Mängel bei der Prognose der Wirkungen der durch das Programm festgelegten Maßnahmen. Auch hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. In Leipzig beim BVerwG geht es alsbald weiter. (Dirk Buchsteiner)
Streiks und Staus in Berlin und Toronto
Wenn, wie in den letzten Tagen, mal wieder ein Streik bei Bussen und Bahnen angekündigt wird, mögen manche sich glücklich über ein eigenes Fahrzeug schätzen. Vermutlich wohnen die dann aber nicht in Berlin. Hier führt Streik beim ÖPNV regelmäßig auch zu Stau: Ein klares Zeichen, dass die parallelen öffentlichen Infrastrukturen von Schiene und Straße zusammenhängen wie kommunizierende Röhren.
Leider werden diese Zeichen in Verkehrspolitik und Verkehrsrecht häufig übersehen. Statt den Ausbau eines Netzes von Fahrradwegen, Straßenbahnen oder Busspuren voranzutreiben, kam nach dem Regierungswechsel zur großen Koalition in Berlin jeder bereits geplante einzelne Kilometer Fahrradweg wieder auf den Prüfstand. Vor allem sollten keine Parkplätze wegfallen. Der Straßenbahnbau soll zwar in Friedrichshain und Mitte grundsätzlich weitergehen, aber die Verkehrssenatorin will sich nicht auf Termine zur Fertigstellung festlegen. Was die Busspuren angeht, ist letztes Jahr eine in der Clay-Allee vom Verwaltungsgericht kassiert worden, weil die Linienbusse dort nicht oft genug pro Stunde fuhren.
Wahrscheinlich wäre die effektivste Stauprävention ein gut vernetzter und zuverlässiger Umweltverbund, also die Kombination aus Fuß‑, Fahrrad‑, Bus- und Bahninfrastruktur, mit ausreichend Redundanzen, um Ausfälle aufzufangen. Dass dies tatsächlich wirkt, kann man bei Auslandsaufenthalten in Städten sehen, in denen es diese Alternative zum Kfz-Verkehr nicht gibt.
Zum Beispiel Toronto in Kanada, wo selbst nach Mitternacht noch Stau auf innenstädtischen Straßen zu beobachten ist. Da es im Prinzip nur eine Regionalbahn- und eine U‑Bahnlinie und ansonsten Busse und Straßenbahnen gibt, die sich die Fahrbahn mit Kfz teilen, wirkt sich der Stau des Kfz-Verkehrs auch auf den ÖPNV aus: Auch die Straßenbahn steht einträchtig mit im Stau. Auch ein Beispiel für „Miteinander im Verkehr“…
Der Fußverkehr ist dann eine Alternative, allerdings keine besonders attraktive, denn er ist buchstäblich in den Untergrund verlegt worden: Die Innenstadt ist unterminiert von einem labyrinthischen Netzwerk von insgesamt mehr als 30 km Unterführungen, unterirdischen Food-Malls und Einkaufszentren, dem sogenannten PATH. Immerhin muss man dort nicht an jeder Ampel mehrere Minuten auf Grün warten. Daher sind die Fußgängertunnel und ‑hallen unter Toronto nicht nur bei Regen oder Schneesturm belebt. Das bringt immerhin Umsatz für die darüber liegenden Kaufhäuser, die ihre Angebote daher weitgehend in den Keller verlegt haben. (Olaf Dilling)
Ashes to Ashes: Die Bundesregierung löscht EUA
Es gehört zu den besser gehüteten Geheimnissen der deutschen Klimaschutzpolitik, dass sie bisher zwar bisweilen recht geräuschvoll, aber fast durchgängig praktisch klimaneutral verlaufen ist. Nehmen wir nur den Kohleausstieg: Die Bundesrepublik schafft mit dem Kohleverstromungsbeendigungsgesetz (KVBG) einen ganzen Rechtsrahmen, in dem Braun- und Steinkohlekrafte ausgeschrieben oder einfach so fürs Abschalten bezahlt und stillgelegt werden (siehe auch hier). Aber weil alle Kraftwerke, die dem Gesetz unterfallen, emissionshandelspflichtig sind, sorgt der sogenannte Wasserbetteffekt erst einmal dafür, dass die Emissionen nicht sinken: Die abgeschalteten Kraftwerke verbrauchen keine Zertifikate mehr. Weil die Nachfrage sinkt, ohne dass das Angebot entsprechend verringert wird, sinkt der Preis. Bei fallenden Preisen lohnt es sich für andere Akteure wieder, statt zu mindern, zu kaufen. Und wenn das schon augenblicklich nicht gilt, weil es europaweit eh zu viele Zertifikate gibt, füllt sich zumindest die Marktstabilitätsreserve, einem Konto, auf dem die Kommission Reservezertifikate hortet, um sie später wieder auf den Markt zu werfen.
Anders sähe es aus, wenn die Bundesregierung Zertifikate löschen würde, die auf Kraftwerke entfallen, die abgeschaltet werden. In diesem Fall tritt der Wasserbett-Effekt nämlich nicht ein. Nachfrage und Angebot sinken im gleichen Maße, so dass nicht jemand anders das CO2 emittiert, das auf die in Deutschland abgeschalteten Kraftwerke entfällt. Sondern ein echter Einspareffekt eintritt.
Tatsächlich hatten sich schon während der Novelle der Emissionshandelsrichtlinie einzelne Stimmen vor allem bei den Grünen dafür stark gemacht, den Kohleausstieg entsprechend scharf zu schalten. Durchgesetzt haben sie sich nicht. Nun aber will die Bundesregierung offenbar Nägel mit Köpfen machen: Zunächst 12,25 Mio. Berechtigungen sollen erst in die Marktstabilitätsreserve überführt werden und dann gelöscht.
Dieser Schritt ist für Deutschland alles andere als symbolisch. Denn wenn deutsche Zertifikate zu Asche zerfallen, kann Deutschland sie nicht mehr verkaufen und erlöst entsprechend auch nichts. Die 12,25 Mio. Berechtigungen wären selbst bei den aktuell deutlich gefallenen Kursen 612,5 Mio. EUR wert. Zum Vergleich: Der umstrittene Erweiterungsbau für das Kanzleramt soll 637 Mio. EUR kosten. Deutschland signalisiert auf diese Weise, dass es trotz knapper Kassen und Schuldenbremse den Klimaschutz ernst nimmt (Miriam Vollmer).