Kann denn „gar nichts“ Sünde sein? Zu EuG T‑196/19

Jura ist ja toll, aber dauert oft ewig: 2012 bis Ende 2013 hatten ganz besonders energie­in­tensive Unter­nehmen vermeintlich das große Los gezogen. Bandlast­kunden, die quasi ganzjährig große Mengen Strom beziehen, wurden durch eine Änderung der Strom­netz­ent­gelt­ver­ordnung (StromNEV) komplett von Netzent­gelten befreit. Sie zahlten also nur den Strom, aber nicht dessen Transport. Hinter­grund für diese Regelung war die Überlegung der Bundes­re­gierung, dass Verbraucher, die konstant große Mengen abnehmen, das Netz nicht belasten. Die Netzkosten wurden deswegen per Umlage auf alle anderen Letzt­ver­braucher verteilt.

Die Bandlast­kunden fanden diese Regelung super, die Kommission teilte diese Begeis­terung aber ebenso wenig wie die deutschen Gerichte, die die Regelung 2015 für nichtig erklärten, so dass rückwirkend seit 2014 wieder ein indivi­du­elles Netzentgelt zu zahlen ist. Doch der Kommission reichte das nicht: Sie leitete im Mai 2013 ein Beihil­fe­prüf­ver­fahren ein und erließ 2018 den Beschluss (EU) 2019/56, mit dem sie feststellte, die Befreiung sei eine staat­liche Beihilfe, die nicht mit dem Binnen­markt vereinbar gewesen sei. Die Bundes­re­publik müsste die verbo­tenen Beihilfen, nämlich die Differenz zwischen den verur­sachten Netzkosten bzw. dem Mindest­entgelt und „null“, deswegen zurück­fordern. Wir haben dies 2018 schon einmal kommen­tiert. Bei diesen Beträgen handelt es sich nicht um Petitessen: Gerade bei den großen Verbrau­chern summiert sich auch ein abgesenktes Netzentgelt schnell auf Millionenhöhe.

Insofern war klar, dass die Betrof­fenen vor Gericht ziehen würden. Im April 2019 ging die Sache zum Europäi­schen Gericht (EuG), der Eingangs­in­stanz des EU-Rechts­systems. Die Parteien beantragten, den Kommis­si­ons­be­schluss für nichtig zu erklären, so dass für 2012 und 2013 nichts mehr nachzu­zahlen wäre hilfs­weise nur ein Anteil von minimal 10% der veröf­fent­lichten Netzent­gelte, die etwa Haushalts­kunden zahlen.

Sonnenuntergang, Fabrik, Gebäude, Beleuchtet

Zu diesem Zeitpunkt waren die Kläger besonders optimis­tisch. Wenige Tage zuvor, am 28. März 2019, hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) nämlich festge­stellt, dass das deutsche EEG 2012 keine Beihilfen enthalte. Das erscheint für Laien oft auf den ersten Blick frappierend, aber die Erklärung ist ganz einfach: Beihilfen werden aus staat­lichen Mitteln gewährt, aber das EEG wurde damals noch über ein Umlage­system der Übertra­gungs­netz­be­treiber aufge­bracht, ging also nie durch die Hände des Staates. Wir haben dies hier erläutert. Wenn aber das EEG 2012 keine Beihilfen enthält, kann eigentlich auch die Netzent­gelt­be­freiung keine Beihilfe darstellen, denn auch dieses Umlage­system ist nicht staatlich, sondern wird durch die Übertra­gungs­netz­be­treiber gewähr­leistet. Die Umlage sei also keine Abgabe und die Letzt­ver­braucher wären auch nicht abgabe­ver­pflichtet. Letzteres stimmt, rechtlich wäre es möglich, dass der jeweilige Netzbe­treiber einfach die Kosten übernimmt.

Das EuG ist dieser Argumen­tation nun nicht gefolgt. Es schließt sich der Argumen­tation der Kommission an, dass Beihilfen auch dann vorliegen würden, wenn sie zwar aus privaten Mitteln, aber aufgrund einer staatlich aufer­legten Pflicht finan­ziert worden seien und nach staat­lichen Regeln verwaltet und verteilt würden. Mit anderen Worten: Ob die Bundes­netz­agentur selbst Abgaben erhebt und verteilt bzw. manche Unter­nehmen bei der Erhebung ausspart, oder per Rechtsakt private Unter­nehmen dies auferlegt wird, sei egal. Für den EuG war der Staat bei dem ganzen Mecha­nismus der Netzent­gelt­be­freiung und der Finan­zierung derselben einfach zu dominant. Das Gericht sieht auch keine Verstöße gegen Gleich­be­hand­lungs­gebot und Vertrau­ens­schutz. Letzteren hatte die Kläger­seite bemüht, weil sie vorm Hinter­grund der geltenden Beihil­fe­de­fi­nition nicht hätte damit rechnen können und müssen, dass die Kommission eine Rückfor­derung anordnen würde. Das Gericht meint indes, ein „umsich­tiger und beson­nener Wirtschafts­teil­nehmer“ wäre – damit überschätzt es aus unserer Sicht die hellse­he­ri­schen Fähig­keiten von Unter­nehmen – in der Lage gewesen, eine solche Maßnahme vorauszusehen.

Doch ist nun aller Tage Abend und die damals begüns­tigten Unter­nehmen müssen Netzent­gelte nachzahlen? Noch gibt es eine weitere Instanz, den EuGH. Und ob dieser in Abkehr von seiner sehr eindeu­tigen Entscheidung zum EEG 2012 die Netzent­gelt­be­freiung und das Umlage­system des § 19 Abs. 2 StromNEV a. F. ebenfalls verwirft, bleibt abzuwarten.

Klar ist aber schon heute: Es wird dauern (Miriam Vollmer).

 

2021-11-10T18:47:26+01:008. Oktober 2021|Industrie, Rechtsprechung, Strom|

Gerechte Teilhabe: Autofahren mit Parkplatzgarantie

Eine Verkehrs­wende hin zu nachhal­tiger Mobilität muss Inter­essen von Menschen mit Behin­de­rungen berück­sich­tigen und dazu zählen auch mobili­täts­ein­ge­schränkte Autofah­re­rinnen und Autofahrer. Nun könnte man denken, die seien die eigent­lichen Verlierer einer Verkehrs­po­litik, die den Fokus weg vom motori­sierten Indivi­du­al­verkehr lenkt. Tatsächlich muss das gar nicht so sein, im Gegenteil.

Das liegt daran, dass gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO bezüglich der meisten den Kfz-Verkehr einschrän­kenden Regelungen in bestimmten Einzel­fällen Ausnah­me­ge­neh­mi­gungen erteilt werden können. Das heißt, dass Menschen, die aus physi­schen Gründen also wegen einer körper­lichen oder senso­ri­schen Behin­derung auf ein Kraft­fahrzeug angewiesen sind, es auch weiterhin so nutzen können, dass ihnen weite Wege erspart bleiben.

Parkplatz mit Rollstuhlsymbol

Daher ist das oft zu hörende Argument, dass autofreie Innen­städte wegen der Mobili­täts­be­dürf­nisse von Behin­derten nicht möglich seien, in vielen Fällen vorge­schoben. Im Gegenteil ist es eher die mangelnde faktische Verfüg­barkeit von wohnort- oder zielnahen Parkplätzen, die mobili­täts­ein­ge­schränkten Autofahrern zu schaffen macht.

Insbe­sondere können Menschen mit einer außer­ge­wöhn­lichen Gehbe­hin­derung, aber auch anderen Behin­de­rungen gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO bei der zustän­digen Straßen­ver­kehrs­be­hörde eine Ausnah­me­ge­neh­migung, den sogenannten blauen EU-Parkausweis beantragen. Voraus­setzung für die Anerkennung einer außer­ge­wöhn­lichen Gehbe­hin­derung ist, dass sie sich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraft­fahr­zeugs bewegen können.

Dieser Ausweis berechtigt sie dann unter anderem dazu:

  • mit einem Rollstuhl­fah­rer­symbol besonders gekenn­zeich­neten Sonder­park­plätzen zu nutzen,
  • bis zu drei Stunden im einge­schränkten Halte­verbot (sog. “Parkverbot”, VZ 286) oder in Bewoh­ner­park­zonen zu parken,
  • zulässige Parkzeiten zu überschreiten,
  • Fußgän­ger­zonen mit Ausnahmen für Be- und Entladen zu nutzen,
  • in verkehrs­be­ru­higten Zonen außerhalb der ausge­wie­senen Parkflächen zu parken.

Zudem können Inhaber des Ausweises auf Antrag auch einen besonders gekenn­zeich­neten perso­nen­be­zo­genen Stell­platz in unmit­tel­barer Nähe der Wohnung oder der Arbeits­stätte des Berech­tigten im öffent­lichen Verkehrsraum reser­vieren lassen. Insgesamt sollte darauf geachtet werden, ausrei­chend Sonder­park­plätze zur Verfügung zu stellen.

An diesen Möglich­keiten zeigt sich, dass eine Reduzierung und Einschränkung der legalen Parkmög­lich­keiten für Menschen mit Behin­de­rungen sehr viel mehr Möglich­keiten zur Teilhabe bietet. Denn sie sind von den Verboten entweder gar nicht betroffen oder sie lassen ihnen weiterhin ausrei­chend Spielraum. Insgesamt dürfte es für sie leichter werden, nahe gelegene und kostenlose Parkmög­lich­keiten zu finden. Es ist daher unzutreffend, dass Beschrän­kungen des Kfz-Verkehrs prinzi­piell zu Lasten von Menschen mit Behin­de­rungen gehen.

Um die Teilhabe am Kraft­fahr­zeug­verkehr zu gewähr­leisten, sollten Kommunen bei der Stadt- und Verkehrs­planung aber dennoch darauf achten, dass ausrei­chend Sonder­park­plätze bereit­ge­stellt werden. Außerdem sollten Zufahrten zu Fußgän­ger­zonen nach Möglichkeit freige­halten werden, um den Zugang für Menschen mit Behin­derung zu ermög­lichen (Olaf Dilling).

2021-10-07T16:30:29+02:007. Oktober 2021|Allgemein|

All around me feeling hot hot hot: Die neue FFVAV & AVBFernwärmeV

Jahrzehn­telang passiert gar nichts und dann passiert alles auf einmal: Dass die Bundes­re­publik auch für Fernwärme die Energie­ef­fi­zi­enz­richt­linie (EED) und die Erneu­erbare-Energien-Richt­linie (RED II) endlich umsetzen musste, war klar. Aber dabei hat sie es nicht belassen. In der jetzt schon legen­dären „letzten Runde“ der letzten Legis­la­tur­pe­riode am 25. Juni 2021 hat der Bundesrat uns alle überrumpelt und beschossen, das Recht der Fernwär­me­ver­sorgung teilweise erheblich zu verändern (hier bereits dazu).

Die schei­dende Bundes­re­gierung stellte sich auf den Stand­punkt, die Änderungen seien nur einheitlich abzulehnen oder anzunehmen. Da die Zeit drängt, vor allem das Fernwär­me­mess­wesen europa­rechts­konform neu zu regeln, hat sie die Änderungen nun so übernommen. Seit dem 5. Oktober 2021 ist die neue „Verordnung über die Verbrauchs­er­fassung und Abrechnung bei der Versorgung mit Fernwärme oder Fernkälte (Fernwärme- oder Fernkälte-Verbrauchs­er­fas­sungs- und ‑Abrech­nungs­ver­ordnung – FFVAV)“ nun in Kraft. Gleich­zeitig sind erheb­liche Änderungen der AVBFern­wärmeV in Kraft getreten. Aus unserer Sicht sind die folgenden Punkte die Wichtigsten: 

# Messein­rich­tungen, die nach dem 5. Oktober 2021 instal­liert werden, müssen fernab­lesbar sein. Weil wir dies schon mehrfach gefragt worden sind: Ja, wirklich ab dem 5. Oktober 2021. Die neuen Regeln gelten ohne Übergangs­vor­schriften. Wer also heute nicht fernab­lesbare Zähler eingebaut hat: Das war falsch.

# Alle bisher einge­bauten nicht fernab­les­baren Zähler müssen bis Silvester 2026 nachge­rüstet oder ersetzt worden sein.

# Es gelten die Smart-Meter-Regeln nun auch für Fernwärme. Insbe­sondere kann der Kunde selbst einen Messtel­len­be­treiber auswählen, wenn schon ein Smart-Meter-Gateway existiert.

# Fernwär­me­ab­rech­nungen werden länger und wenn der Kunde will, digitaler, in den meisten Fällen aber auch häufiger: Zweimal pro Jahr mindestens, auf Kunden­bitte hin mindestens viertel­jährlich, muss der Versorger Preise und Verbrauch und Infos über Wärme­träger, Techno­logien, THG-Emissionen, einen witte­rungs­be­rei­nigten Verbrauchs­ver­gleich mit anderen Kunden und dem Vorjahr und noch einiges mehr klar und verständlich mitteilen.

# Für diese neuen Abrech­nungen gibt es nur bei den THG-Emissionen für Kunden kleinerer Fernwär­me­systeme eine Schon­frist bis zum 1. Januar 2022. Ansonsten gilt auch hier: Bitte springen Sie jetzt.

# Künftig gehören viele Infor­ma­tionen über das Fernwär­me­produkt wie etwa der Primär-energie­faktor ins Internet, ebenso die allge­meinen Versor­gungs­be­din­gungen, Preise, Preis­gleit­klauseln, Infor­ma­tionen über Netzver­luste etc. Achtung, auch hier gibt es keine Übergangs­fristen. Die Regeln sind bereits scharfgeschaltet. 

# Wir hatten schon vor Wochen darauf hinge­wiesen: Künftig kann auch im laufenden Vertrags­ver­hältnis der Kunde einmal jährlich seine Anschluss­leistung abändern. Gründe braucht er keine, sofern er die Leistung nicht um mehr als 50% reduziert. Steigt er auf Erneu­erbare um, kann er auch um mehr als 50% reduzieren oder ganz aus dem Vertrag aussteigen.

# Eine Änderung der Preis­gleit­klausel kann nach Ergänzung des § 24 Abvs. 4 AVBFern­wärmeV nicht durch öffent­liche Bekanntgabe erfolgen.

Feuer, Flamme, Hitze, Heiß, Linie, Brennen, Brand

Was bedeutet das nun für Versorger? Sie müssen in jedem Falle sehr schnell aktiv werden. Da es keine Umset­zungs­fristen gibt, sind alle Geschäfts­pro­zesse ab sofort umzustellen. Insbe­sondere sind die Veröf­fent­li­chungs­pflichten umgehend umzusetzen! Unter­nehmen brauchen nun einen Zeitplan, müssen ihre Verträge und Rechnungs­muster überar­beiten, ihre Homepage angehen und, ist dies noch nicht geschehen, den Standard für Wärme­zähler abändern. Die bisher oft behäbige Welt der Wärme­ver­sorgung wird also kräftig aufge­wirbelt. Oder, passend zum Thema: Fernwärme wird hot, hot, hot (Miriam Vollmer)

Wir führen in die Neuerungen kurzfristig am 12. Oktober 2021 per Zoom ein! Infos und Anmeldung gibt es hier.

2021-10-06T22:27:47+02:006. Oktober 2021|Energiepolitik, Wärme|