Meinen Studenten an der Uni Bielefeld erkläre ich die individuellen Netzentgelte mit meiner imaginären Fluggesellschaft, der Air Vollmer. Diese transportiert Passagiere von A‑Stadt nach B‑City. Normalerweise zahlen alle Passagiere 200 EUR pro Strecke. Aber manche Passagiere verpflichten sich vertraglich, ausschließlich morgens um drei zu fliegen, wenn sonst keiner reist. Oder sie fliegen jeden Tag verlässlich morgens und abends. Dass es diese Passagiere gibt, ist für die anderen Reisenden ein Riesenvorteil. Denn die auf mein Flugzeug, meine Zentrale und meinen Hangar pro Strecke entfallenden Kosten sinken natürlich, wenn die Infrastruktur gleichmäßiger genutzt wird. Und außerdem kann ich viel besser planen, wenn ich von einer gewissen Grundauslastung ausgehen kann, was meine relativen Kosten gleichfalls senkt. Wären diese Passagiere nicht, meine anderen Fluggäste müssten mindestens 220 EUR zahlen, weil meine Fixkosten sich nicht so gut verteilen würden. Deswegen kostet ein Flug nachts um drei nur 120 EUR und für meine Dauerkunden gibt es einen Rabatt.
„Reist“ Strom durch die Stromnetze ist dieser Effekt sogar noch größer. Denn mein Flugzeug könnte ja auch einfach am Boden bleiben. Stromnetze allerdings müssen eine immer gleichbleibende Spannung aufweisen, ansonsten bricht das Netz zusammen und der Strom fällt aus. Derjenige, der zu Zeiten Strom entnimmt, wenn nur wenige Strom beziehen, ist also für das Stromnetz sogar noch wertvoller als mein Flugpassagier morgens um drei. Und und weil für einen sicheren Netzbetrieb immer eine Mindestanzahl an Regelkraftwerken Strom liefern muss, ist der sog. “Bandlastkunde”, der rund um die Uhr dafür sorgt, dass dieser Strom auch abgenommen wird, ebenfalls noch wichtiger für den Netzbetreiber als mein imaginärer täglicher Flugpassagier. Unter diese Kategorie fallen vor allem manche Industrien, die für ihre Prozesse Strom als Betriebsmittel brauchen, etwa Aluminiumhütten oder Chlorelektrolysen.
Diesen Beitrag für die Systemstabilität durch besondere Netznutzer erkennt § 19 Abs. 2 Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) an. Dieser ordnet an, dass sowohl der atypische Bezug als auch der Bandlastbezug verringerte Netzentgelte zahlen dürfen. Danach liegt ein atypischer Strombezug vor, wenn es aufgrund vorliegender oder prognostizierter Verbrauchsdaten oder auf Grund technischer oder vertraglicher Gegebenheiten offensichtlich ist, dass der Höchstlastbeitrag eines Letztverbrauchers vorhersehbar erheblich von der zeitgleichen Jahreshöchstlast aller Entnahmen aus dieser Netz- oder Umspannebene abweicht. Ein Bandlastkunde ist dagegen ein Kunde, der mehr als 10 GWh über mindestens 7.000 Stunden im Jahr bezieht. Da ein Jahr 8.760 Stunden hat, ist ein Bandlastkunde quasi immer am Netz.
Die Details und insbesondere die Berechnung des besonderes Netznutzungsentgelts hat die Bundesnetzagentur (BNetzA) geregelt. Diese – genauer gesagt: deren BK 4 – ist für die individuellen Netznutzungsentgelte zuständig. Netzbetreiber und Letztverbraucher schließen also einen regulären privatrechtlichen Vertrag, aber die Behörde wacht darüber, dass die Voraussetzungen für ein Sonderentgelt gegeben sind und die Höhe stimmt. Damit gewährleistet die BNetzA, dass Energiewirtschaft und Industrie nicht zulasten aller anderen Verbraucher besonders niedrige Entgelte vereinbaren.
Auf ihrer Homepage hat die BK 4 umfangreiche Unterlagen zum Thema bereitgestellt, unter anderem ein Berechnungstool für das individuelle Netzentgelt. Hier finden sich auch praktische Handreichungen. Hilfreich für die Praxis ist insbesondere ein Merkblatt mit allgemeinen Informationen. Die BNetzA hat auch eine Mustervereinbarung für die Abrede zwischen Netzbetreiber und Letztverbraucher erstellt. Anders als viele glauben, können nicht nur Großunternehmen über besondere Netzentgelte nachdenken. Auch mancher Mittelständler – zB Bäckereien – kann seine Netznutzung so organisieren, dass er die Hochlastzeitfenster seines Netzbetreibers in relevantem Maße vermeidet. Diese sind im Internet publiziert. Es lohnt sich also in vielen Fällen durchaus, das Bezugsverhalten zu durchleuchten und auf den Netzbetreiber zuzugehen, dem es im Übrigen nicht freisteht, ob er bei Bestehen der Genehmigungsvoraussetzungen ein individuelles Netzentgelt anbietet oder nicht. Hierauf besteht ein Anspruch des Letztverbrauchers.
Allerdings ist eine Anzeige nicht rund ums Jahr möglich. Es gilt eine Frist zum 30.09. Wer zu spät oder mit unvollständigen Angaben kommt, muss ein Jahr warten. Für viele Unternehmen, die sehr, sehr viel Strom beziehen, wäre das ein Desaster: Ihr Strom würde sich so verteuern, dass sie in Deutschland nicht weiterproduzieren könnten.
Formulare für die Anzeigen für beide Formen der individuellen Netznutzung gibt es ebenfalls auf der Seite der BK 4 der BNetzA. Soeben hat die Behörde die aktuellen Anzeigeformulare für das Jahr 2018 bereitgestellt. Für Bandlastkunden finden Sie sie hier. Für die Fälle der atypischen Netznutzung gilt dieses Anzeigeformular.
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