Kitas und Schulen: Neue Regeln für die Notbetreuung

Zur Zeit ist es tatsächlich nicht leicht immer den Überblick über die in Deutschland geltenden Regeln zu bewahren. Zumal der Födera­lismus die Sache unter diesem Gesichts­punkt tatsächlich nicht leichter macht. Kaum hat man sich an bestimmte, ein paar Wochen alte Regelungen gewöhnt, z.B. über die Notbe­treuung in Kitas und Schulen, kommen neue Regeln, die zudem schritt­weise Richtung Öffnung geändert werden sollen. Das führt am Ende dazu, dass selbst dieje­nigen, die für die Umsetzung der Regeln verant­wortlich sind, sich nicht immer im Klaren darüber sind.

Heute wurde in Berlin die neue Liste der system­re­le­vanten Berufe veröf­fent­licht. In Kraft treten soll sie am 27.04.2020, also ab Anfang nächster Woche. Aufge­nommen wurden viele Berufe auch aus eher verwal­tenden und dienst­leis­tenden Bereichen, z.B. Pädagogen, weitere Beschäf­tigte aus dem Gesund­heits­sektor und der Verwaltung. Sogar die Anwalt­schaft ist jetzt system­re­levant! In einer E‑Mail verlieh die Rechts­an­walts­kammer Berlin heute darüber Ihrer Freude Ausdruck. Wir sind eher skeptisch. Immerhin gibt es weiterhin einen Vorrang der häuslichen Betreuung.

Außerdem reicht es mittler­weile, dass nur ein Elternteil system­re­levant ist. Konse­quen­ter­weise können nun auch Allein­er­zie­hende die Notbe­treuung in Anspruch nehmen. Schließlich ist der Bereich der Kinder mit beson­derem indivi­du­ellen Förder­bedarf, die bislang schon in Berlin in besonders schweren Fällen betreut werden konnten, ausge­weitet worden auf Fälle, in denen eine Betreuung unter dem Gesichts­punkt des Kinder­schutzes notwendig ist. Alles in allem ist dürfte damit die Notbe­treuung fast zur Regel geworden sein. Oder: Wie sagten wir zu Anfang? Es wird immer schwie­riger, den Überblick darüber zu bewahren, welche Regeln noch gelten und welche schon zur Ausnahme geworden sind (Olaf Dilling).

2020-04-22T18:30:41+02:0022. April 2020|Allgemein, Verwaltungsrecht|

Natur­schutz: Abwei­chung von natur­fach­lichen Leitfäden

Mit Entscheidung vom 06.08.2019 (8 B 409/18) hat das Oberver­wal­tungs­ge­richt (OVG) Münster eine allgemein natur­schutz­rechtlich und insbe­sondere für Windener­gie­an­lagen bedeutsame Entscheidung gefällt. Einmal mehr ging es um die Gefahren, die von Windkraft­an­lagen für Vögel ausgehen, konkret Rotmilane und Mornellregenpfeifer.

In dem konkreten Geneh­mi­gungs­ver­fahren konnte nicht ausge­schlossen werden, dass ein signi­fikant erhöhtes Tötungs­risiko für Tiere der geschützten Arten besteht. Ein solches Risiko gilt gemeinhin als Verstoß gegen das – absolut formu­lierte, aber so nicht angewandte – Tötungs­verbot für Exemplare geschützter Arten. Zwar hat die Geneh­mi­gungs­be­hörde eine natur­schutz­fach­liche Einschät­zungs­prä­ro­gative, also einen gerichts­freien Spielraum. Sie muss aber erkennen lassen, „ob sich die Einschätzung auf nachvoll­ziehbare Überle­gungen stützt“. Zu deutsch: Wenn nicht einmal nachvoll­ziehbar ist, wie die Behörde zu ihrer Entscheidung gekommen ist, reicht das nicht, um vor Gericht damit durchzukommen.

Im vom OVG Münster entschie­denen Fall galt genau das. Es gibt nämlich einen Maßstab nachvoll­zieh­barer Überle­gungen, nämlich den Leitfaden „Umsetzung des Arten- und Habitat­schutzes bei der Planung und Geneh­migung von Windener­gie­an­lagen in Nordrhein-Westfalen“ von 2017. An diesem Leitfaden hatte sich die Behörde aber nicht orien­tiert. Der nahe des Vorhabens gelegene Schlaf­platz der geschützten Vögel sei, so die Richter, nicht ausrei­chend geschützt, denn die Neben­be­stim­mungen, die dem Vorha­ben­träger auferlegt worden waren, wären hinter dem Standard des Leitfadens deutlich zurück­ge­blieben. Das Gericht meint: Wenn eine Behörde sich nicht an einem solchen Leitfaden orien­tiert, muss sie das nachvoll­ziehbar begründen. Ähnlich argumen­tiert das Gericht zum natur­schutz­recht­lichen Störungsverbot.

Die der Entscheidung zugrunde liegenden Überle­gungen erinnern in gewisser Weise an die ältere Recht­spre­chung zu den vormals noch nicht verrecht­lichten techni­schen Anlei­tungen. Sie seien, so hieß es damals, antizi­pierte Sachver­stän­di­gen­gut­achten und wurden deswegen im Prozess heran­ge­zogen. Die damals disku­tierten Einwände gelten damit auch heute: Eine demokra­tische Legiti­mation fehlt ebenso wie eine inten­sivere fachliche Diskussion. Der Gesetz­geber sollte die Lücke selbst schließen, die die Recht­spre­chung hier zu recht sieht (Miriam Vollmer).

Corona und Grund­rechte: Zusam­men­kunft auf Abstand

Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt hat letzte Woche nunmehr klarge­stellt, dass ein Total­verbot für politische Versamm­lungen auch angesichts der Infek­ti­ons­gefahr durch Corona unzulässig ist. Der Fall betraf eine Serie von Versamm­lungen in Gießen unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grund­rechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“. Die Organi­sa­toren hatten sich verschiedene Maßnahmen überlegt, wie sich Infek­tionen auf den Demons­tra­tionen vermeiden ließen. Die Teilnehmer sollten durch Hinweis­schilder zur Einhaltung der Abständen ermahnt werden. Ordnern sollten sie zu markierten Start­po­si­tionen lotsen, mit einem Abstand von 10 Metern nach vorn und hinten und 6 Metern seitlich. Starten sollten dort Einzel­per­sonen, Wohnge­mein­schaften oder Familien. Redebei­träge würden über das eigene Mobil­te­lefon des jewei­ligen Redners zu einer Beschal­lungs­anlage übertragen.

Die Stadt Gießen verbot die Versamm­lungen unter Anordnung der sofor­tigen Vollziehung gestützt auf § 15 Abs. 1 VersG. Die Versamm­lungen würden die öffent­liche Sicherheit und die öffent­liche Ordnung unmit­telbar gefährden. Sie verstießen gegen § 1 Abs. 1 der 3. Hessi­schen Corona-Verordnung. Der Antrag­steller hat zunächst erfolglos Wider­spruch eingelegt und hat dann – ohne Erfolg – über zwei Instanzen vor dem Gericht die Wieder­her­stellung der aufschie­benden Wirkung beantragt.

Aus Sicht des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts hat die Verbots­ver­fügung den Antrags­steller eindeutig in seinem Recht auf Art. 8 GG verletzt. Die Stadt Gießen habe nicht ausrei­chend zwischen dem Recht auf Versamm­lungs­freiheit und den Belangen des Infek­ti­ons­schutzes abgewogen. Sie hat verkannt, dass ihr bei Auslegung der Verordnung ein Entschei­dungs­spielraum zur Verfügung steht. Überwiegend mache sie Bedenken geltend, die gegenüber jeder Versammlung vorge­bracht werden könnten. Dies werde den Spiel­räumen bei der Auslegung der Verordnung nicht gerecht, die sich aus einer Berück­sich­tigung von Art. 8 GG ergeben müssten (Olaf Dilling).

2020-04-20T22:01:47+02:0020. April 2020|Allgemein, Verwaltungsrecht|