Zurück zu Tempo 50 = zurück zur StVO?
Der CDU-Fraktionschef des Berliner Abgeordnetenhauses Stettner hat laut rbb24 angekündigt, in 23 Hauptstraßen in Berlin Tempo 30 aufzuheben, an Stellen, wo die Vorgängerregierung dies eingeführt hatte. Man wolle damit „grüne Verbotsfantasien rückgängig“ machen und – so wörtlich – „zur StVO zurückkehren“. Diese Aussage ist aus verschiedenen Gründen überraschend:
Zum einen sind uns in unserer Erfahrung mit dem Verkehrsrecht wenig Fälle begegnet, wo die Verwaltung frei von allen Zwängen der StVO Verkehrsregelungen anordnet. Im Gegenteil. Oft werden in Deutschland Regelungen, die relativ unkontrovers, weil sinnvoll und politisch mehrheitlich gewollt sind, nicht umgesetzt, weil die Straßenverkehrsbehörden oder Tiefbauämter sich dagegen sperren – unter Verweis auf die StVO. In Berlin ist das nicht viel anders, ob unter einer von SPD und Grünen oder von CDU und SPD geführten Regierung. Tatsächlich wurden einige Tempo 30-Strecken aus Gründen der Luftreinhaltung eingeführt. Aufgrund der Verbesserung der Luftqualität könnte nun geprüft werden, ob dies noch nötig ist. Mit willkürlichen „Verbotsfantasien“ hat das aber wenig zu tun.
Zum anderen wurde die StVO gerade reformiert, um für Kommunen Tempo 30 zu ermöglichen. Wir haben vorletzte Woche darüber berichtet. Es gibt nun viele neue Möglichkeiten, die in den Städten zusammengenommen manchmal sogar dazu führen, dass sich ein Großteil des Hauptstraßennetzes mit Tempo 30-Strecken überspannen lässt. Allerdings war ja bei der Reform von Möglichkeiten die Rede. Können die Kommunen also entscheiden, ob sie vor Schulen, Altenheimen, Kindergärten, neuerdings auch Spielplätzen, an hochfrequentierten Schulwegen oder Zebrastreifen Tempo 30 anordnen? Oder sind sie in manchen Fällen sogar dazu verpflichtet?
Ein Blick in die StVO könnte den Eindruck erwecken, dass der Verwaltung in diesen Fällen freie Hand eingeräumt wird. Denn die Möglichkeit, hier auch auf Hauptstraßen Tempo 30 anzuordnen, beruht auf einer Ausnahme, nämlich § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO, die die Begründungsanforderungen reduziert: Statt einer qualifizierten reicht eine einfache Gefahr zur Begründung der Geschwindigkeitsbegrenzung. Allerdings steht hinter dieser Differenzierung auch eine verfassungsrechtliche Bewertung. Die Grundrechte auf Leben und Gesundheit nach Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG, die auf dem Spiel stehen, wenn vor sensiblen Einrichtungen zu schnell gefahren wird, haben besonderen Schutz verdient. Das Leben wird von der Verfassung höher bewertet als die persönliche Freiheit, schnell mit dem Auto zu fahren.
Das spiegelt sich auch in der Verwaltungsvorschrift zur StVO wider. Dort heißt es nämlich, dass vor den genannten Einrichtungen die Geschwindigkeit „in der Regel auf Tempo 30 km/h zu beschränken“ ist. Ausnahmen sind nur dann möglich, wenn negative Auswirkungen auf den ÖPNV, insbesondere Taktverkehr, oder Verlagerungen auf Wohnnebenstraßen drohen. Bei den neuen Gründen für Temporeduzierungen muss unterschieden werden.
Bei den hochfrequentierten Schulwegen ist es genauso wie mit den sensiblen Einrichtungen: Hier ist im Regelfall eine Geschwindigkeitsbegrenzung erforderlich und nur bei den bereits genannten Gründen (ÖPNV und Ausweichverkehre) ist eine Ausnahme möglich.
Anders ist es dagegen bei den Fußgängerüberwegen. Hier „kann“ die Verwaltung in ihrem unmittelbaren Bereich eine Geschwindigkeitsreduzierung anordnen. Ein Ermessen hat die Verwaltung auch bei Lückenschlüssen, die inzwischen von 300 auf 500 m ausgedehnt werden können. Laut Verwaltungsvorschrift kommen sie „in Betracht“, sind aber nicht zwingend.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es viele Gründe gibt, wegen denen Tempo 30 zwingend angeordnet werden muss, es sei denn es bestehen begründete Ausnahmen. Andere Gründe kann die Verwaltung in Anspruch nehmen, muss es aber nicht. Was schlicht nicht geht ist unter dem Schlachtruf „zurück zur StVO“ pauschal alle Tempo 30-Beschränkungen auch vor sensiblen Einrichtungen wie Schulen, Altenheimen und neuerdings auf hochfrequentierten Schulwegen zurückzunehmen. Letztlich ist die StVO Bundesrecht, das Länder wie Berlin ausführen müssen und dabei nur begrenzte Spielräume haben. (Olaf Dilling)