Nicht­an­nah­me­be­schluss des BVerfG: Schutz­pflichten und gesetz­ge­be­rische Spielräume

Von den etwa 6000 Verfas­sungs­be­schwerden, die jedes Jahr das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt erreichen, werden jährlich mehr als 5000 gar nicht erst zur Entscheidung angenommen. Voraus­setzung ist, dass ihnen keine grund­sätz­liche verfas­sungs­recht­liche Bedeutung zukommt und eine Entscheidung nicht zur Durch­setzung von Grund­rechten erfor­derlich ist. Nach § 93d Absatz 1 Satz 3 des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts­ge­setzes muss der Beschluss der Nicht­an­nahme nicht eigens begründet werden. Wäre es anders, wie letztes Jahr von der AfD gefordert, wäre das Verfas­sungs­ge­richt nicht mehr arbeits­fähig oder müsste, ohne einen erheb­lichen Mehrwert für die Öffent­lichkeit, um einen weiteren Senat aufge­stockt werden. Immerhin könnte man sich ja auch fragen, worin der Vorteil liegen soll, die Möglichkeit zu der Entscheidung zu haben, eine Sache nicht entscheiden zu müssen, wenn diese Entscheidung über die Nicht­ent­scheidung dann ähnlich detail­liert begründet werden müsste, wie die Entscheidung selbst. Oder kurz gesagt, wieso einfach, wenn es auch kompli­ziert geht? Wenn sich das BVerfG dennoch aus freien Stücken dazu hinreißen lässt, trotz Nicht­an­nahme eine Begründung zu liefern, wie in jährlich etwa 200–300 Fällen, dann ist das oft ganz instruktiv.

Letztes Jahr hat sich das BVerfG beispiels­weise anlässlich einer Verfas­sungs­be­schwerde gegen die Nacht­flug­re­ge­lungen im Rahmen der Planung des Flughafens Berlin-Schönefeld zu Schutz­pflichten geäußert. Die Beschwer­de­führer waren zuvor vor dem Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt unter­legen. Nachdem das BVerfG sich mit den Verfah­rens­rechten der Beschwer­de­führer und insbe­sondere ihrem Anspruch auf recht­liches Gehör in Artikel 103 Absatz 1 GG ausein­an­der­ge­setzt hat, geht es auf eine mögliche Verletzung des Rechts auf Gesundheit gemäß Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG ein. Es handelt sich ja um keinen Fall von grund­sätz­licher Bedeutung (denn sonst wäre ja, siehe oben, kein Nicht­an­nah­me­be­schluss zulässig). Trotzdem wird das Verfas­sungs­ge­richt hier recht grund­sätzlich, fasst dabei aber lediglich seine gefes­tigte Recht­spre­chung zusammen:

Das Grund­recht habe eine Doppel­funktion, indem es einer­seits staat­liche Eingriffe abwehrt, anderer­seits die staat­liche Pflicht begründet, „sich schützend und fördernd vor die Rechts­güter Leben und körper­liche Unver­sehrtheit zu stellen und sie vor rechts­wid­rigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“. Dies könne neben der Gefah­ren­abwehr auch die Risiko­vor­sorge umfassen. Konkret seien auch Maßnahmen zum Schutz vor gesund­heits­schä­di­genden und gesund­heits­ge­fähr­denden Auswir­kungen von Fluglärm erfor­derlich. Aller­dings gibt es einen entschei­denden Unter­schied zwischen dem Abwehr­recht und der Schutz­pflicht. Während das Abwehr­recht ein bestimmtes staat­liches Verhalten verbiete, sei die Schutz­pflicht grund­sätzlich unbestimmt. So hat der Gesetz­geber bei der Festlegung des Schutz­kon­zepts im Fluglärm­schutz­ge­setzes einen Gestal­tungs­spielraum. Nur, wenn Schutz­vor­keh­rungen entweder überhaupt nicht getroffen sind, wenn die Regelungen und Maßnahmen offen­sichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder wenn sie erheblich hinter dem Schutzziel zurück­bleiben, käme eine Verletzung der Schutz­pflicht in Frage.

Aller­dings hat der Gesetz­geber auch eine Überprü­fungs- und Nachbes­se­rungs­pflicht, um seine gesetz­lichen Regelungen an neue wissen­schaft­liche Erkennt­nisse anzupassen. Hier gelte aber die gefes­tigte Recht­spre­chung des Bundes­ver­wal­tungs­ge­richts, dass eine neue Erkenntnis erst zugrunde gelegt werden muss, wenn sie sich in der wissen­schaft­lichen Diskussion durch­ge­setzt hat.

So richtig geholfen hat den Beschwer­de­führern im Ergebnis weder ihre Verfas­sungs­be­schwerde, noch die Begründung, die das BVerfG für seine Nicht­an­nahme gegeben hat. Aber manchmal hilft es ja auch ein bisschen, zu wissen, warum etwas nicht geklappt hat. Und wir anderen können daraus lernen, unter welchen Voraus­set­zungen ein Verfahren doch erfolg­ver­spre­chend sein könnte.

 

2019-01-15T10:04:21+01:0015. Januar 2019|Allgemein, Umwelt, Verkehr, Verwaltungsrecht|

Strom­kosten bei Leerstand

Ein bekanntes Problem: Der Mieter zieht aus und kündigt den Strom­lie­fer­vertrag. Bis ein neuer Mieter einzieht und einen neuen Strom­lie­fer­vertrag abschließt, vergeht einige Zeit. Wer kommt aber während des Leerstands für die entste­henden Strom­kosten auf?

Diese Strom­kosten betragen auch ohne Mieter nicht null. Wenn der Vermieter poten­ti­ellen neuen Mieter die Wohnung zeigt, schaltet er das Licht ein, zeigt, wie die elektri­schen Jalousien funktio­nieren, und außerdem liegt bereits in der schieren Verfüg­barkeit von Strom inklusive des Strom­zählers, der im Regelfall (nicht immer) dem Versorger gehört, eine Leistung.

Bis zum 2. Juli 2014 waren sich die meisten Energie­ver­sorger sicher: Der Vermieter als derjenige, der faktisch die Hand auf der Wohnung hat, ist Entnah­me­kunde. Hierbei handelt es sich gemäß § 2 Abs. 2 Strom­grund­ver­sor­gungs­ver­ordnung (StromGVV) um jemanden, der Strom aus dem Netz der allge­meinen Versorgung entnimmt, ohne einen ausdrück­lichen Vertrag abgeschlossen zu haben. So wird ein unerwünschter vertrags­loser Zustand vermieden.

Der BGH hat dies zwar 2014 im Grundsatz bejaht (VIII ZR 316/13). Er stellte aber damals klar, dass der Energie­ver­sorger nicht automa­tisch auf den Eigen­tümer zugreifen darf, sondern sich an denje­nigen halten muss, der faktisch die Verfü­gungs­gewalt über die Immobilie besitzt, selbst wenn im Moment der Strom­ent­nahme der Energie­ver­sorger davon gar nichts weiß. Und er ist darüber hinaus zu der Ansicht gelangt, dass eine Entnahme von Strom in geringem Umfang durch den Eigen­tümer diesen nicht zum Grund­ver­sor­gungs­kunden macht. Derartige kurzfristige und gering­fügige Energie­ent­nahmen, so der BGH, seien zu vernachlässigen.

Diese Entscheidung bereitet Energie­ver­sorgern bis heute Schwie­rig­keiten. Dogma­tisch ist die Entscheidung nicht recht nachvoll­ziehbar. Entweder liegt in der erstma­ligen Entnahme von Strom die Annahme eines Angebots des Energie­ver­sorger, Strom zu liefern. Die derjenige dann annimmt, der diesen Strom bezieht. Oder dem ist nicht so. Eine Relevanz­schwelle sieht die StromGVV eigentlich nicht vor.

Doch abseits dieser juris­ti­schen Schwie­rig­keiten stellt sich die Frage, wie pragma­tisch mit der Situation umzugehen ist. Gerade, wenn es um längere Zeiträume geht, ist es nicht endlos und in endlos vielen Fällen wirtschaftlich vertretbar, auf den Fixkosten sitzen zu bleiben. Den Zähler aber einfach auszu­bauen, verur­sacht ebenfalls kosten­träch­tigen Aufwand. Zwar hat für den Wieder­einbau des Zählers dann der neue Mieter als Strom­kunde aufzu­kommen. Doch auf den Kosten für den Ausbau bleibt der Versorger sitzen. 

Uns wurde kürzlich berichtet, dass zumindest einzelne Unter­nehmen nach auszugs­be­dingter Kündigung von Mietern dem Vermieter das Angebot einer Zähler­miete zuschicken, die zumindest die Fixkosten des Anschlusses deckt. Der Rücklauf sei verhält­nis­mäßig gut, denn die mit dem ansonsten ja zumindest möglichen Ausbau des Zählers verbun­denen Aufwände scheut nicht nur der Versorger, sondern auch der Vermieter, der den Zugang zum Zähler eröffnen – also die Wohnung aufschließen und ggfls. putzen – muss. Und dem neuen Mieter dazu auch erst einmal mitzu­teilen hat, dass er vor dem Einzug sich um einen neuen Strom­zähler kümmern muss. Auch diese Praxis wird aber als unglücklich empfunden. 

Hier steht zu hoffen, dass der BGH früher oder später zu einer den Bedürf­nissen der Praxis mehr entspre­chenden Recht­spre­chung gelangt.

2019-01-14T08:10:19+01:0013. Januar 2019|Allgemein|

Zucker in der Limo & Staub im Regelwerk…

Aus Hamburg erreichte uns gestern die kuriose Nachricht, dass eine besonders hippe und fair gehan­delte, dafür auch eher hochpreisige Bio-Limonade eigentlich zu wenig Zucker enthält, um als Limonade gelten zu dürfen. Sie enthält nämlich nur sechs statt, wie vorge­schrieben, sieben Prozent Zucker.

Immerhin ist jetzt klar, warum diese Getränke immer so entsetzlich klebrig und süß sind. Wer bitte, fragen wir uns nun aber, schreibt vor, dass wir nur Limonaden mit ziemlich viel Zucker trinken dürfen? Bevor jetzt wieder eine Tirade über die „Regelungswut“ der Brüsseler Kommission losbricht: Es handelt sich nach ersten Recherchen offenbar um eine Regelung deutscher Prove­nienz. Nicht ganz so alt wie das Reinheits­gebot von 1516, geht es doch um eine immerhin seit den 1950er Jahren  existie­rende und seither beharrlich gewachsene Insti­tution: das Deutsche Lebens­mit­tel­handbuch (DLMH), für dessen Ausar­beitung in zahllosen Leitlinie eine Kommission unter dem Bundes­mi­nis­terium für Ernährung und Landwirt­schaft verant­wortlich zeichnet. Die Ausar­beitung dieser Leitlinien beruht zwar auf gesetz­licher Grundlage in § 15 und § 16 des Lebensmittel‑, Bedarfs­ge­gen­stände- und Futter­mit­tel­ge­setz­buches (LFGB). Die Leitlinien selbst haben aber keine Rechts­wirkung, sondern werden (ähnlich wie früher die TA-Luft) als eine Art vorge­zo­genes Sachver­stän­di­gen­gut­achten angesehen. Sie beruhen auf dem Prinzip, dass sie die allge­meine Verkehrs­auf­fassung für bestimmte Produkte wieder­geben sollen. Aller­dings, so wird eine hansea­tische Behörde zum Limona­denfall zitiert, „seien Bezeich­nungen und Verar­bei­tungs­ver­fahren enthalten, die heute teilweise nicht mehr den Verbrau­cher­er­war­tungen entsprechen“.

Für die Hipster aus dem Hamburg, die ihre faire und gesund­heits­be­wusste Limonade im Stadtteil St. Pauli zusam­men­rühren, ist die Sache daher auch noch mal glimpflich ausge­gangen: auf Inter­vention des Gesund­heits­amtes wird ihr Produkt vom Bezirksamt Hamburg-Mitte vorerst nicht beanstandet. Immerhin handelt es sich bei dem Deutschen Lebens­mit­tel­handbuch lediglich um so etwas wie eine rechtlich nicht bindende Verwal­tungs­vor­schrift. Die Gesund­heits­se­na­torin der Freien- und Hanse­stadt Hamburg will sich derweil beim Bund dafür einsetzen, dass gesund­heits­schäd­liche Mindest­ge­halte in den Leitlinien des Deutschen Lebens­mit­tel­hand­buchs einer Prüfung unter­zogen werden.

2019-01-11T09:46:56+01:0011. Januar 2019|Allgemein|