Entscheidungen im „Erkenntnisvakuum“? BVerfG zu Windanlagen und Rotmilanen
Eigentlich müssen Juristen, Richter zumal, es ja schon von Berufs wegen besser wissen. Wenn jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, heißt es im Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4, steht ihm der Rechtsweg offen. Das damit garantierte Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt an sich die vollständige gerichtliche Überprüfung von Verwaltungsakten in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Allerdings hat die Rechtsprechung für bestimmte Bereiche der Verwaltung seit langem Beurteilungsspielräume angenommen. Mit anderen Worten: hier darf die Verwaltung das letzte Wort behalten, und dies nicht nur bei gesetzlich ausdrücklich eingeräumten Ermessensentscheidungen, sondern auch bei der Auslegung unbestimmter Rechtbegriffe. Dies gilt beispielsweise für Prognose- und Risikoentscheidungen oder bei den Entscheidungen von Prüfungs- und Sachverständigengremien.
Seit einiger Zeit wird vor den Gerichten und in der Rechtslehre auch von der sogenannten „naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative“ gesprochen. Entwickelt wurde diese Figur in den letzten 10 Jahren durch Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vor allem im Bereich des naturschutzrechtlichen Tötungsverbotes und des Gebietsschutzes. Hintergrund ist unter anderem die Ausweitung des Tötungsverbots von der vorsätzlichen Tötung auch auf ansonsten rechtmäßige Handlungen, in deren Folge Tiere zu Tode kommen können. Hier sind oft sehr voraussetzungsreiche, auf Wahrscheinlichkeitsurteilen beruhende fachwissenschaftliche Prognosen erforderlich. Auch diese naturschutzbezogenen Entscheidungen der Verwaltung werden von den Gerichten seither oft nicht mehr detailliert überprüft. Oft handelt es sich um Vorhabengenehmigungen und häufig um Windkraftanlagen.
Kürzlich hat auch das Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 23. Oktober 2018 – 1 BvR 2523/13 zu diesen Entscheidungen Stellung genommen. Zwei Betreiber von Windkraftanlagen hatten Verfassungsbeschwerden erhoben, um die verwaltungsgerichtliche Praxis zu überprüfen. Den Unternehmen war die Genehmigung von Windenergieanlagen durch die zuständige Behörde versagt worden, weil die in der Gegend vorkommenden Rotmilane durch die Anlagen einem erhöhten Tötungsrisiko ausgesetzt seien. Die Verwaltungsgerichte waren nach ständiger Rechtsprechung von der Einschätzungsprärogative der Behörde ausgegangen. Schließlich handele es sich um eine außergerichtliche Frage, für die es bislang keine allgemein anerkannten wissenschaftlichen Maßstäbe und keine fachlichen Entscheidungskriterien gibt.
Wegen der schwach ausgeprägten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle waren die Unternehmen der Auffassung, nicht ausreichend gegen behördliche Willkür geschützt zu sein. So richtig Erfolg hatten sie mit ihrer Beschwerde nicht. Letztlich hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung nämlich die Praxis der Verwaltungsgerichte im Wesentlichen gestützt. Zwar seien die Gerichte verpflichtet, den Sachverhalt weitestgehend aufzuklären. Wenn aber der aktuelle Erkenntnisstand der naturschutzfachlichen Wissenschaft und Praxis für die zu klärende Frage nichts hergibt, muss das Gericht nicht weiter ermitteln. Es sei vielmehr kein Verstoß gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes hier die plausible Einschätzung der Behörde zugrunde zu legen. Allerdings weist das Bundesverfassungsgericht auch darauf hin, dass der Gesetzgeber in der Pflicht sei, zumindest auf längere Sicht geeignete Entscheidungsmaßstäbe zumindest auf untergesetzlicher Ebene zur Verfügung zu stellen. Er dürfe nämlich Gerichten und Verwaltung nicht ohne Vorgabe entsprechender Kriterien Entscheidungen in einem „Erkenntnisvakuum“ übertragen. Künftige Anlagenbetreiber könnten wegen der zu erwartenden Klärung der Rechtslage doch noch von den Verfassungsbeschwerden profitieren.