VG Gelsen­kirchen: Radent­scheide fragen zu viel!

Wir hatten an dieser Stelle vor einem Jahr schon einmal anlässlich der Entscheidung des Bayri­schen Verfas­sungs­ge­richtshofs über die Frage der recht­lichen Zuläs­sigkeit von sogenannten Radent­scheiden berichtet. Damals war es vor allem und die Frage der Kompe­tenz­auf­teilung zwischen Bund und Ländern bzw. Gemeinden gegangen. Im März hat es zu Radent­scheiden eine weitere Entscheidung des Verwal­tungs­ge­richts (VG) Gelsen­kirchen gegeben. Diese Entscheidung verdeut­licht, welche kommu­nal­po­li­ti­schen Voraus­set­zungen Bürger­ent­scheide haben, die bei Radent­scheiden mitunter nicht gegeben sind.

Typischer­weise handelt es sich bei Radent­scheide um Bürger­ent­scheide, die eine program­ma­tische Förderung des Radver­kehrs mit einem mehr oder weniger konkret ausfor­mu­lierten Maßnah­men­paket kombi­nieren. Das sah das VG Gelsen­kirchen im Fall des Radent­scheids Bochum als ein recht­liches Problem an. Denn Bürger­be­gehren mit einem Programm unter­schied­licher Maßnahmen würden gegen das Kopplungs­verbot und den Bestimmt­heit­grundsatz verstoßen.

In Nordrhein-Westfalen ergäbe sich dies aus den Vorgaben des § 26 der Gemein­de­ordnung (GO) NRW. Denn in dieser Vorschrift sind in Nordrhein-Westfalen die Möglich­keiten geregelt, über Bürger­be­gehren und Bürger­ent­scheid als Elementen direkter Demokratie Einfluss auf die Kommu­nal­po­litik zu nehmen. Und in ihr ist davon die Rede, dass die Bürger in Form eines Bürger­be­gehrens beantragen können, dass sie an Stelle des Rates über eine Angele­genheit der Gemeinde selbst entscheiden (sogenannter Bürgerentscheid). 

Wohlge­merkt wird im Singular von der Möglichkeit gesprochen „eine Angele­genheit“ zu entscheiden. Im zweiten Absatz ist von der zur Entscheidung zu bringenden Frage die Rede. Beides versteht das Gericht in dem Sinne, dass es sich nicht um mehrere unter­schied­liche Fragen handeln darf, die zu einem komplexen Paket geschnürt werden (Kopplungs­verbot). Wenn der Bürger­ent­scheid doch mehrere Fragen enthält, so müssen jeden­falls in einem engem Sachzu­sam­menhang stehen. Schließlich können die Bürger die Fragen bei der Entscheidung auch nur gemeinsam mit einer „Ja“-/„Nein“-Entscheidung beant­worten. Diesen Zusam­menhang hat das Gericht beim Radent­scheid Bochum verneint, da sieben unter­schied­liche Maßnahmen zur Abstimmung stehen sollten, darunter der Ausbau der Radin­fra­struktur, Freigabe von Einbahn­straßen in die Gegen­richtung oder sicherer Umbau von Kreuzungsbereichen.

Für die Initia­tiven zu Radent­scheiden ist die Entscheidung sicher enttäu­schend. Aller­dings ist sie auch vor dem Hinter­grund einer klaren demokra­ti­schen Verant­wortung der Kommunen zu sehen, die zwar einzelne, klar abgrenzbare Fragen den Bürgern zur Entscheidung überant­worten können. Die Entscheidung über komplexere Programme, die häufig auch noch weiterer Umset­zungs­ent­schei­dungen bedürfen, sollte aber dem Gemein­derat vorbe­halten sein, um die Verant­wortung der gewählten Reprä­sen­tanten klar zu halten. (Olaf Dilling)

 

 

2024-07-05T04:25:41+02:005. Juli 2024|Kommentar, Kommunalrecht, Rechtsprechung, Verkehr|

Benut­zungs­pflicht von Radwegen

Radwege denken viele, sind ein Vorteil für den Radverkehr und alle Radfahrer sollten sich drüber freuen. Nun, diese Aussage lässt sich in ihrer Pauscha­lität nicht halten. Es gibt einfach zu viele unter­schied­liche Typen von Menschen, die das Rad als Verkehrs­mittel benutzen. Es gibt die Pedal­ritter, die möglichst schnell und ungehindert von A nach B wollen und so furchtlos sind, dass sie kein Problem haben, sich die Fahrbahn mit den Kfz zu teilen. Für sie sind Radwege eine unter­träg­liche Gängelei und sie beharren darauf, sie nicht benutzen zu müssen. „Vehicular Cycling“ ist auch im engli­schen Sprachraum das Stichwort.

Eine Zeitlang hat dieser Typus Radfahrer auch das deutsche Verkehrs­recht geprägt. In der Novelle der StVO 1998 wurde die generelle Benut­zungs­pflicht aufge­hoben worden. Das heißt, dass Radwege nur dort benutzt werden müssen, wo sie per Verkehrs­zeichen angeordnet sind. Seitdem haben Radfahrer, alleine oder mit Unter­stützung des ADFC, vielerorts gegen die Benut­zungs­pflicht von Radwegen geklagt. Oft sogar mit Erfolg, etwa wenn Radwege erheb­liche Mängel aufwiesen. Im Jahr 2010 hat das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt (BVerwG) entschieden, dass eine Benut­zungs­pflicht nur angeordnet werden dürfe, wenn dies aufgrund einer quali­fi­zierten Gefah­renlage begründet werden kann. Die Latte hängt also ziemlich hoch. 

Dass die Benut­zungs­pflicht an Voraus­set­zungen geknüpft ist, ist grund­sätzlich gut. Denn oft dienen Radwege als „Feigen­blatt“, sind in schlechtem Zustand oder weisen Gefah­ren­quellen auf. In vielen Fällen ist es objektiv sogar weniger gefährlich auf der Fahrbahn zu fahren, da Radfahrer dort seltener übersehen werden.

Aber wie gesagt lassen sich Radfahrer kaum über eine Kamm scheren. Es gibt auch viele Fahrrad­fahrer, die langsam unterwegs sind und ihr Fahrzeug weniger gut beherr­schen. Für sie kann die Trennung vom Kraft­fahr­zeug­verkehr hilfreich und beruhigend sein. Inzwi­schen werden daher oft geschützte Radfahr­streifen als der Königsweg angesehen, da sie Schutz und Sicht­barkeit vereinen. (Olaf Dilling)

2024-05-09T21:35:48+02:009. Mai 2024|Verkehr|

Gießener Verkehrs­versuch: Vorläu­figer Stopp vom VGH Kassel bestätigt

Mit einer Reform der StVO ist vor einigen Jahren auch eine Klausel zur Erleich­terung von Verkehrs­ver­suchen aufge­nommen worden. Um einen Versuch rechts­sicher zu begründen, ist nun zumindest keine „quali­fi­zierte Gefah­renlage“ erfor­derlich, sondern es reicht eine einfache Gefahrenlage.

doppelseitig befahrbarer Fahrradstreifen

Dass dies kein Freifahrts­schein für vorüber­ge­hende Verkehrs­be­schrän­kungen zur Erprobung ist, zeigen viele inzwi­schen ergangene Gerichts­ent­schei­dungen. Aktuell auch zu einem Verkehrs­versuch in Gießen, wo die beiden inneren Fahrstreifen des Anlagen­rings Fahrrad­fahrern zur Verfügung gestellt werden sollten. Wir hatten vor einiger Zeit schon über diesen Verkehrs­versuch berichtet und sein Scheitern im Eilver­fahren in erster Instanz vor dem Verwal­tungs­ge­richt Gießen.

Inzwi­schen hat der hessische Verwal­tungs­ge­richtshof in Kassel auch in zweiter Instanz das vorläufige Aus des neuen, in beide Richtungen befahr­baren Radfahr­streifens bestätigt. Trotz der Erleich­te­rungen hinsichtlich der Begrün­dungs­vor­aus­set­zungen ist weiterhin nach § 45 Abs. 1 StVO nicht nur eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs erfor­derlich. Nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO muss die Regelung auch „zwingend erfor­derlich“ sein. Das ist, wie die Agora Verkehrs­wende in einem Papier zu recht kriti­siert, bei einem Versuch nicht so einfach, denn es geht dabei ja eigentlich erst darum, die Erfor­der­lichkeit zu erforschen.

Jeden­falls hätte die Stadt Gießen bei ihrer Begründung des Versuchs die Gefahren für den Verkehr nicht ausrei­chend dargelegt. Aktuell seien auf dem Anlagenring relativ viele Kraft­fahr­zeuge und nur wenig Fahrräder unterwegs (ob sich das Gericht dabei eine aktuelle Zunahme und das Potential angesichts der verbes­serten Infra­struktur berück­sichtigt hat, geht aus der Presse­mit­teilung nicht hervor). Außerdem seien Alter­na­tiven nicht ausrei­chend geprüft worden und Einwände des Regie­rungs­prä­si­diums Gießen und des Polizei­prä­si­diums nicht ausrei­chend berück­sichtigt worden. Insbe­sondere sei unklar, ob die gemeinsame Benutzung der neuen Fahrstreifen durch Busse und Fahrräder eine neue Gefahr darstellen könnten.

Auch das von der Gemeinde vorge­brachte Argument des Klima­schutzes könne eine straßen­ver­kehrs­recht­liche Maßnahme nicht recht­fer­tigen. Allen­falls bei der Auswahl der Alter­na­tiven könnte es als Aspekt mit einfließen. Bis auf Weiteres gilt für Gemeinden also, dass auch Verkehrs­ver­suche sorgfältig anhand der Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs begründet werden müssen. Die Entscheidung zeigt auch, dass die aktuelle StVO notwendige Schritte in Richtung Verkehrs­wende in vielen Fällen weiterhin verhindert. Eine tiefgrei­fendere Reform wäre insofern nötig. (Olaf Dilling)

2023-08-31T18:20:12+02:0031. August 2023|Allgemein, Kommentar, Rechtsprechung, Verkehr, Verwaltungsrecht|