Gießener Verkehrs­versuch: Vorläu­figer Stopp vom VGH Kassel bestätigt

Mit einer Reform der StVO ist vor einigen Jahren auch eine Klausel zur Erleich­terung von Verkehrs­ver­suchen aufge­nommen worden. Um einen Versuch rechts­sicher zu begründen, ist nun zumindest keine „quali­fi­zierte Gefah­renlage“ erfor­derlich, sondern es reicht eine einfache Gefahrenlage.

doppelseitig befahrbarer Fahrradstreifen

Dass dies kein Freifahrts­schein für vorüber­ge­hende Verkehrs­be­schrän­kungen zur Erprobung ist, zeigen viele inzwi­schen ergangene Gerichts­ent­schei­dungen. Aktuell auch zu einem Verkehrs­versuch in Gießen, wo die beiden inneren Fahrstreifen des Anlagen­rings Fahrrad­fahrern zur Verfügung gestellt werden sollten. Wir hatten vor einiger Zeit schon über diesen Verkehrs­versuch berichtet und sein Scheitern im Eilver­fahren in erster Instanz vor dem Verwal­tungs­ge­richt Gießen.

Inzwi­schen hat der hessische Verwal­tungs­ge­richtshof in Kassel auch in zweiter Instanz das vorläufige Aus des neuen, in beide Richtungen befahr­baren Radfahr­streifens bestätigt. Trotz der Erleich­te­rungen hinsichtlich der Begrün­dungs­vor­aus­set­zungen ist weiterhin nach § 45 Abs. 1 StVO nicht nur eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs erfor­derlich. Nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO muss die Regelung auch „zwingend erfor­derlich“ sein. Das ist, wie die Agora Verkehrs­wende in einem Papier zu recht kriti­siert, bei einem Versuch nicht so einfach, denn es geht dabei ja eigentlich erst darum, die Erfor­der­lichkeit zu erforschen.

Jeden­falls hätte die Stadt Gießen bei ihrer Begründung des Versuchs die Gefahren für den Verkehr nicht ausrei­chend dargelegt. Aktuell seien auf dem Anlagenring relativ viele Kraft­fahr­zeuge und nur wenig Fahrräder unterwegs (ob sich das Gericht dabei eine aktuelle Zunahme und das Potential angesichts der verbes­serten Infra­struktur berück­sichtigt hat, geht aus der Presse­mit­teilung nicht hervor). Außerdem seien Alter­na­tiven nicht ausrei­chend geprüft worden und Einwände des Regie­rungs­prä­si­diums Gießen und des Polizei­prä­si­diums nicht ausrei­chend berück­sichtigt worden. Insbe­sondere sei unklar, ob die gemeinsame Benutzung der neuen Fahrstreifen durch Busse und Fahrräder eine neue Gefahr darstellen könnten.

Auch das von der Gemeinde vorge­brachte Argument des Klima­schutzes könne eine straßen­ver­kehrs­recht­liche Maßnahme nicht recht­fer­tigen. Allen­falls bei der Auswahl der Alter­na­tiven könnte es als Aspekt mit einfließen. Bis auf Weiteres gilt für Gemeinden also, dass auch Verkehrs­ver­suche sorgfältig anhand der Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs begründet werden müssen. Die Entscheidung zeigt auch, dass die aktuelle StVO notwendige Schritte in Richtung Verkehrs­wende in vielen Fällen weiterhin verhindert. Eine tiefgrei­fendere Reform wäre insofern nötig. (Olaf Dilling)

2023-08-31T18:20:12+02:0031. August 2023|Allgemein, Kommentar, Rechtsprechung, Verkehr, Verwaltungsrecht|

Parken in Einbahn­straßen mit Radgegenverkehr

In vielen inner­städ­ti­schen Tempo-30-Zonen ist in den Einbahn­straßen der Radverkehr in Gegen­richtung freige­geben. Seit einer Novelle der StVO im Jahr 1999 ist es sogar so, dass die Freigabe in Straßen mit wenig Verkehr angeordnet werden soll.

Was oft nicht bekannt ist: Die weitere Voraus­setzung dafür ist nach der Verwal­tungs­vor­schrift, dass genug Platz für den Begeg­nungs­verkehr vorhanden ist. Laut Verwal­tungs­vor­schrift sollen das, wenn in der Straße mit Buslinien- oder stärkerem Lkw-Verkehr zu rechnen ist, mindestens 3,50 m sein.

Einbahnstraßenschild

Die ausrei­chende Begeg­nungs­breite ist vor allem dann häufig nicht gegeben, wenn die Fahrbahn durch parkende Kraft­fahr­zeuge verengt ist. Dann verbleibt in vielen Straßen nämlich nur die Mindest­breite von gut 3 m, die nötig ist, damit eine Fahrbahn auch gefahrlos von Einsatz­fahr­zeugen der Feuerwehr passiert werden kann. Je nach örtlichen Gegeben­heiten ist ein gefahr­loses Passieren dann nicht mehr möglich. Da es oft zwischen Fahrrad­fahrern und parkenden Kfz zu Kolli­sionen kommt, weil Fahrer oder Beifahrer die Türen unver­mittelt öffnen, muss ein Sicher­heitsraum zwischen parkenden Fahrzeugen und Fahrrad­fahrern einge­plant werden, der von den gut drei Metern noch abgeht. Zumindest müssen an solchen Straßen dann in regel­mä­ßigen Abständen ausrei­chend große Begeg­nungs­stellen einrichtet werden, in die Fahrzeuge ausweichen können.

Zudem ist die Anordnung von Parkplätzen oder die Duldung von parkenden Fahrzeugen nicht recht­mäßig, soweit dadurch die notwendige Begeg­nungs­breite einge­schränkt wird. In einem Urteil des Verwal­tungs­ge­richts (VG) Freiburg von 2021 wird dies näher begründet. In dem zu entschei­denden Fall ging es darum, dass ein Anwohner vor seiner Garagen­ein­fahrt aber außerhalb der eigens markierten Parkplätze aufge­setzt geparkt hatte. In diesem Bereich war durch die Unter­bre­chung der Parkmar­kie­rungen eine Ausweich­fläche geschaffen worden.

Der Kläger hatte dort seit Jahren geparkt, bis er mehrmals Verwar­nungs­gelder zahlen musste. Daraufhin stellte er einen Antrag auf Ausnah­me­ge­neh­migung gemäß § 46 StVO. Dieser wurde ihm von der zustän­digen Straßen­ver­kehrs­be­hörde zunächst mit der Begründung verweigert, dass das Parken auf Zufahrten gemäß § 12 Abs. 3 Nr. 3 StVO auch für die Berech­tigten verboten sei. Das VG hat dies zwar verneint: Die Vorschrift schütze allein den Berech­tigten. Die Anordnung der Freigabe der Einbahn­straße für den Fahrrad­verkehr würde jedoch bedingen, dass nunmehr „für den Fahrverkehr auf der Fahrbahn eine Breite von in der Regel 3,5 m, mindestens jedoch 3 m mit ausrei­chenden Ausweich­mög­lich­keiten, vorhanden“ sei. Deshalb sei es nicht möglich, dem Kläger das Parken auf (und vor) seiner Zufahrt zu erlauben. (Olaf Dilling)

2023-06-30T14:19:33+02:0029. Juni 2023|Allgemein, Rechtsprechung, Verkehr, Verwaltungsrecht|

Radent­scheid unzulässig

Laut Koali­ti­ons­vertrag der Ampel­re­gierung sollten eigentlich durch eine Änderung von Straßen­ver­kehrs­gesetz (StVG) und StVO den Ländern und Kommunen mehr Spiel­räume einge­räumt werden. Bisher wurden aber im Bundes­ver­kehrs­mi­nis­terium offenbar keinerlei Schritte unter­nommen, diesem Ziel näher zu kommen. Nicht zuletzt wegen des Reform­staus gibt es in den Ländern und Kommunen Überle­gungen, den Zielen einer Verkehrs­wende auch ohne grünes Licht aus Berlin näher zu kommen.

Dazu gehören Entwürfe zu Mobilitäts- und Radver­kehrs­ge­setzen der Länder. Ein Vorbild ist das Berliner Mobili­täts­gesetz. Aller­dings zeigt der Radent­scheid aus Bayern, dass hier auch poten­tielle juris­tische Fallstricke lauern. Politisch hatte der Radent­scheid als Volks­be­gehren großen Erfolg. Denn mit 30.000 Unter­zeichnern war das erfor­der­liche Quorum von 25.000 Unter­schriften satt überschritten worden. Vor dem Bayri­schen Verfas­sungs­ge­richtshof (BayVerfGH) ist der Radent­scheid, der auf ein Radgesetz abzielte, nun aller­dings gescheitert. Das von ihm inten­dierte Radgesetz sei verfassungswidrig.

Vorgelegt hatte dem BayVerfGH das Bayerische Innen­mi­nis­terium, das nach Artikel 64 Landes­wahl­gesetz eine Entscheidung des Gerichtshofs herbei­zu­führen hat, wenn es der Auffassung ist, dass die gesetz­lichen Voraus­set­zungen für die Zulassung eines Volks­be­gehrens nicht gegeben sind.

Nun stehen in dem Geset­zes­entwurf allesamt eigentlich keine verfas­sungs­wid­rigen Inhalte:

  • So soll bis zum Jahr 2030 den Anteil des Radver­kehrs am Verkehrs­auf­kommen in Bayern auf mindestens 25 % erhöht werden.
  • Dafür soll bei der Planung und dem Neu‑, Um- und Ausbau von Straßen der Fokus künftig auf den Verkehrs­mitteln des Umwelt­ver­bundes (Rad- und Fußverkehr sowie ÖPNV) liegen.
  • Der Radverkehr soll u. a. mit Radschnell­ver­bin­dungen gefördert werden, Einbahn­straßen sollen grund­sätzlich auch entgegen der Fahrt­richtung für den Radverkehr geöffnet
    und es sollen sichere Abstell­mög­lich­keiten für Fahrräder aller Art geschaffen und staat-
    lich gefördert werden.
  • Ein weiteres Ziel ist die Erhöhung der Verkehrs­si­cherheit für den
    Rad- und Fußverkehr unter Verfolgung der „Vision Zero“.

Suspekt war den Verfas­sungs­richtern, die sich ausdrücklich nicht gegen die politi­schen Ziele des Volks­be­gehrens gewandt haben, aller­dings ein von ihnen monierter Eingriff in die Kompe­tenz­ordnung des Grund­ge­setzes: Einige der gefor­derten Regelungen seien solche des Straßen­ver­kehrs­rechts. Dem Landes­ge­setz­geber fehle nach Art. 72 Abs. 1 Grund­gesetz die erfor­der­liche Gesetz­ge­bungs­kom­petenz. Diese bestehe nur für Straßen- und Wegerecht, nicht aber für Straßenverkehrsrecht.

Es sei aber nicht klar, ob die Unter­stützer des Volks­be­gehrens diesem auch zugestimmt hätten, wenn die verfas­sungs­wid­rigen Regeln nicht darin enthalten gewesen wären. Das zeigt zugleich einen Nachteil von Volks­be­gehren, da eine Mobili­sierung von entspre­chend vielen Bürgern nur sehr punktuell möglich ist. Durch die mangelnde Zulassung sind vermutlich zu viele Unter­stützer frustriert, so dass ein nachge­bes­sertes Begehren bis auf weiteres wohl nicht zustande kommt. Immerhin wurde das Radgesetz, wenn auch nur in entschärfter Form, nun auch von der Bayri­schen Regie­rungs­ko­alition aufge­griffen. (Olaf Dilling)

 

2023-06-09T15:59:03+02:009. Juni 2023|Verkehr|