Dass die Verkehrswende nur etwas für eine privilegierte Minderheit sei, die es sich leisten könne, in der Innenstadt zu leben, ist ein von interessierten Kreisen inzwischen gut gestreuter Mythos. Tatsächlich sind aber viele der Menschen, die auf dem Land oder in urbanen Außenbezirken leben, gleichermaßen auf Alternativen zum Auto angewiesen. Seien es Kinder oder alte Leute, die einen einen guten öffentlichen Verkehr brauchen, um in die Stadt zu kommen – oder Rad- und Gehwege, um Freunde im Nachbardorf zu treffen.
Aber neben dem ÖPNV werden auch Radwege werden zunehmend interessant für Pendler. Dies ist vor allem den Pedelecs geschuldet, die bis 30 km/h fahren. Ein weiterer Grund sind gut ausgebaute Rad-Vorrang-Routen, die in vielen Großstädten nun geplant werden. Oft können die 10 – 15 km vom Außenbezirk in die Innenstadt nämlich schneller und vor allem verlässlicher als mit dem eigenen Auto in einer halben oder dreiviertel Stunde zurückgelegt werden. Vorausgesetzt ist, dass Wartezeiten an Ampeln oder Kreuzungen möglichst entfallen. Hier sind die Rad-Vorrang- oder Prämium-Routen eine echte Innovation.
Rad-Vorrang-Routen zeichnen sich durch eine durchgängige Linienführung von Radwegen, Fahrradstraßen und geschützten Radfahrstreifen aus. Die Radwege müssen breit genug angelegt sein, dass langsamere Radfahrer, auch Lastenräder oder Spezialfahrräder, sicher und behinderungsfrei überholt werden können. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die Qualität der Wegeoberfläche. Weiterhin darf es nur zu wenig Verzögerungen kommen, was sich durch einen möglichst durchgängigen „Vorrang“ gegenüber querenden Verkehren erreichen lässt. Vorrangig soll das durch Fahrradstraßen in Tempo 30-Zonen mit Vorfahrt für den Radverkehr umgesetzt werden sowie durch breite Radwege oder Radfahrstreifen an Hauptverkehrsstraßen. Auch die Ampelschaltungen müssen auf den Radverkehr abgestimmt werden.
All das funktioniert aber nur, wenn dafür im städtischen Raum Platz geschaffen wird. Dieser Platz ist in deutschen Großstädten typischerweise bis auf das letzte Fleckchen mit privaten Kfz zugestellt. Dadurch kommt es bei der Planung von Rad-Vorrang-Routen quasi zwangsläufig zu Konflikten zwischen Radverkehr und ruhendem Kfz-Verkehr. Das ist politisch ein Problem, da der hohe Nutzen des Radverkehrs zur Entlastung der urbanen Mobilität unter dem Gesichtspunkt von Ressourceneffizienz und inbesondere Raumnutzung nicht allgemein anerkannt ist. Deutlich wird das an den jüngsten politischen Verwerfungen in Berlin, wo bereits fertig geplante oder sogar gebaute Radwege wegen Parkplätzen wieder aufgegeben werden.
Rechtlich ist es, entgegen verbreiteter Annahmen, kein großes Problem, bestehende Parkplätze für Rad-Vorrang-Routen aufzugeben. Das zeigt einmal wieder ein neues Urteil des Verwaltungsgerichts (VG) Aachen. Der Bewohner einer Straße hatte geklagt, weil Parkplätze vor seinem Haus weggefallen waren. Bei der Einrichtung einer Rad-Vorrang-Route, die durch seine Wohnstraße führt, wäre für eine Fahrradstraße mit zugelassenem Kfz-Verkehr ansonsten die erforderliche Begegnungsbreite die von 5 m zwischen Kfz und Fahrrädern nicht gewährleistet gewesen. Frühere Rechtsprechung aus Hannover hat bereits entschieden, dass bei der Einrichtung einer Fahrradstraße ein substantieller Mehrwert an Sicherheit und Flüssigkeit für die Fahrradfahrer herausspringen muss. Das ist bei einer zu knapp bemessenen Fahrradstraße, auf der nicht sicher überholt werden kann, nicht der Fall.
Das VG wies die Klage ab. Denn die Beklagte Gemeinde konnte die Einrichtung der Fahrradstraße und – damit zusammenhängend – ein eingeschränktes Haltverbot für Kfz zu Recht auf § 45 Abs. 1b Satz 1 Nr. 5 Alt. 2 StVO stützen. Hiernach träfen die Straßenverkehrsbehörden die notwendigen Anordnungen zur Unterstützung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung. Das Gericht führt weiterhin aus, dass sie insofern nicht ordnungsrechtliche Verkehrsaufgaben erfüllen, sondern unterstützen planende Aufgaben unterstützen. Die Voraussetzungen eines entsprechenden Mobilitätskonzeptes sei mit dem Verkehrsentwicklungsplan der Stadt Aachen erfüllt. Die Anordnung dient der Durchsetzung der Linienführung der Rad-Vorrang-Route.
Der auf § 45 Abs. 1b Satz 1 Nr. 5 Alt. 2 StVO und die dazu ergangene Rechtsprechung trägt der Tatsache Rechnung, dass Infrastruktur wie eine Fahrradstraße nicht nur für sich genommen im Kontext der örtlichen Gegebenheiten betrachtet werden darf, wie das in der Logik des § 45 Abs. 1 StVO liegt. Vielmehr muss auch die Netzbedeutung einer Straße betrachtet werden. Hier zeigt sich, dass die streitgegenständliche Straße eine hohe Bedeutung für den Radverkehr, aber nur eine untergeordnete Bedeutung für den Kfz-Verkehr hat. Nicht zuletzt deswegen war die Anordnung der Fahrradstraße gerechtfertigt.
Allgemein lässt sich aus dieser Entscheidung für die Verkehrspolitik lernen, dass Parkplätze rechtlich nur geringen (Bestand-)Schutz besitzen. Dies zeigt sich auch daran, dass sich das Erfordernis einer qualifizierten Gefahrenlage gemäß § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO nicht auf den ruhenden Verkehr bezieht. Zudem ist es, gerade bei den Rad-Vorrang-Routen wichtig, die Bedeutung einzelner Abschnitte für das Gesamtnetz zu sehen, anstatt sich bei der Anordnung von Radverkehrsinfrastruktur zu sehr an der Verkehrsunfallstatistik aufzuhängen. (Olaf Dilling)
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