Ob die Proteste gegen den Tagebau in Lützerath, auf den Straßen der Republik oder in Gemäldegalerien wirklich der sinnvollste Hebel für mehr Klimaschutz sind, da haben wir unsere Zweifel. Trotzdem ist es einigermaßen besorgniserregend, dass in der öffentlichen Diskussion aktuell die Tendenz vorherrscht, diese Proteste als undemokratisch, gewaltsam oder gar „terroristisch“ darzustellen. Denn dadurch wird in Frage gestellt, was spätestens seit der Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eigentlich zum Bestand des Verfassungsverständnisses unter dem Grundgesetz zählt: Dass die Versammlungsfreiheit weit auszulegen ist, dass vereinzeltes unfriedliches Verhalten nicht zu einer Inkriminierung einer Demonstration insgesamt oder gar einer ganzen Protestbewegung führen darf, dass passiver Widerstand grundsätzlich möglich sein muss, auch und gerade wenn er sich gegen die Durchsetzung geltenden Rechts wendet.
Tatsächlich ist ja für die Klimaschutzbewegung eigentlich eher charakteristisch, dass sie geltendes Recht einfordert: vor allem die Einhaltung des Paris-Übereinkommens, also eines völkerrechtlichen Vertrags, und des Klimaschutzgesetzes und die darin formulierten Ziele. Im Kern ist es insofern eine Bewegung, die sich stärker als beispielsweise der Protest gegen die Stationierung von Pershing II, die Anti-Atom-Bewegung der 1980er oder die Proteste von Landwirten gegen die Düngemittelverordnung mit dem demokratischen Souverän konform geht. Sie verfolgt im Wesentlichen Ziele, die grundsätzlich von allen demokratischen Parteien geteilt werden. Wenn sich Klimaschützer nun gegen rechtskräftige Entscheidungen zum Ausbau des Braunkohletagebaus oder des Baus von Autobahnen wenden, dann weisen sie vor allem auf Widersprüche in der aktuellen Politik hin. Zum Beispiel auf ein Verkehrsressort, das im Detail die Ziele nicht nur knapp, sondern komplett verfehlt, denen sie ‚grosso modo‘ schon zugestimmt hat.
Aber letztlich kann es darauf gar nicht ankommen, wenn es um den Schutz von Demonstrationen durch die Versammlungsfreiheit geht. Denn Versammlungen sind auch und gerade dann geschützt, wenn es um Widerspruch gegen aktuell geltendes Recht geht: Dafür sind politische Prozesse in liberalen Demokratien da, andere Meinungen, die sich nicht in geltendem Recht niedergeschlagen haben, zu absorbieren und öffentlich zu verhandeln.
Was die Gewaltsamkeit angeht, ist der Gewaltbegriff, der den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit definiert, selbst Gegenstand der rechtspolitischen Setzung: Je nach Ausgestaltung des Strafrechts und Entwicklung der Rechtsprechung der Strafgerichte können Verhaltensweisen, die – Beispiel Mutlangen – als Inbegriff friedlichen Protests und des zivilen Ungehorsams galten, zu kriminellen, radikalen Verhalten umdefiniert werden. Dieser politischen und rechtlichen Neujustierung sind jedoch ihrerseits Grenzen durch das Verfassungsrecht gesetzt. Denn die Einschränkung von Grundrechten ist an verfassungsrechtlichen Maßstäben zu messen: an den sogenannten „Schranken-Schranken“, wie es im Juristendeutsch heißt.
Der Gesetzgeber ist also gut beraten, sich bei der Kriminalisierung von Blockaden zu mäßigen, wenn er einen Schiffbruch in Karlsruhe vermeiden will. Zudem muss er im Hinterkopf behalten, wie sich aktuell diskutierten Strafverschärfungen für Nötigung und gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr über die intendierte Wirkung hinaus auch auf die Nutzung des öffentlichen Raums insgesamt auswirken: Müssen auch Falschparker für längere Zeit ins Gefängnis, wenn sie in Kauf nehmen, Rettungskräfte zu blockieren? Oder wird eine „Straßenblockade“ privilegiert, die aus egoistischen Motiven oder Bequemlichkeit erfolgt? Kann es sein, dass ein im Ergebnis vergleichbares Verhalten strenger bestraft wird, nur weil als Ausdruck einer politischen Gesinnung ist? Für einen demokratischen Rechtsstaat ist dies eine durchaus fragwürdige Entwicklung. (Olaf Dilling)
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