Donnerschlag: Die Entscheidung des EuGH v. 2.9.2021 zur Bundesnetzagentur (C‑718/18)
Unabhängige Behörden sind der deutsche Verwaltung eigentlich fremd. Tradition hat die unabhängige Bundesbank, aber ansonsten gibt es in Deutschland ein klares Hierarchieverhältnis zwischen Parlament, also Politik, Ministerien und den nachgeordneten Behörden. Wie an straffen Schnüren hängen damit, so die Vorstellung, alle Entscheidungen noch des letzten Beamten über viele Zwischenschritte mit dem Wähler als Souverän zusammen. Diese Vorstellung hat auch in der Verfassung Niederschlag gefunden: In Art. 20 Abs. 2 GG heißt es, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht.
Mit der Entscheidung vom 2. September 2021 (C‑718/18) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun die Bundesnetzagentur von diesen straffen Schnüren abgelöst. Konkret hatte die Kommission – die das hier nun entschiedene Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte – bemängelt, dass die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats auf Grundlage von § 24 Abs. 1 EnWG detaillierte Verordnungen erlassen hat, nämlich u. a. die StromNEV, die StromNZV und die entsprechenden Regelungen für Gas. Das sei allein Sache der Bundesnetzagentur, die Bundesregierung habe sich herauszuhalten, zumal es hinreichend detaillierte Regelungen des Gemeinschaftsrechts gebe. Die Bundesnetzagentur sei gegenüber der Bundesregierung auf eine Weise zu verselbständigen, die
„garantiert, dass die betreffende Stelle im Verhältnis zu den Einrichtungen, denen gegenüber ihre Unabhängigkeit zu wahren ist, völlig frei handeln kann und dabei vor jeglicher Weisung und Einflussnahme von außen geschützt ist“.
Die Regierung könnte zwar allgemeine politische Leitlinien aufstellen, aber die Regulierungsaufgaben und ‑befugnissen dürfte dies nicht betreffen. In diesem Zusammenhang setzt der EuGH sogar die Einflussnahme durch Wirtschaftsverbände, Unternehmen o. ä. mit der durch öffentliche Stellen, also die demokratisch legitimierte Bundesregierung, gleich. Nur dies sichere „unparteiische und nicht diskriminierende“ Entscheidungen.
Was bedeutet diese Entscheidung?
Für das deutsche Energierecht ist das Urteil bahnbrechend. Faktisch entmachtet es die deutsche Politik. Die Bundesnetzagentur verlässt ihren Platz im organisatorischen Gefüge des Energierechts und empfängt ihre Legitimation nunmehr direkt aus den gemeinschaftsrechtlichen Quellen.
Was Kommission und EuGH damit auch bezweckt haben, dürfte eintreten: Dass Parlament verliert massiv an Einfluss. Aber ist nicht gerade das Energierecht, die Gestaltung der Energiewirtschaft, der Netze, eine politische und nicht rein technokratische Angelegenheit?
Schwierig auch die damit verbundene Verlagerung des Rechtsschutzes. Wenn nicht mehr deutsche Rechtsverordnungen vollzogen werden, sondern der viel weniger detaillierte Richtlinienauftrag, wird der Prüfungsmaßstab noch weniger vorhersehbar, die Gerichtsbarkeit verlagert sich in Vorlageverfahren nach Luxemburg.
Insgesamt gilt vor allem: Die Kommission gewinnt an Macht, der EuGH rückt in eine noch zentralere Stelle auf. Das deutsche Parlament verliert ebenso wie die Bundesregierung. Die Bundesnetzagentur gewinnt auf den ersten Blick enorm, aber auf den zweiten verschieben sich hier die Gewichte von Berlin weg weniger an den Rhein, als nach Brüssel und Luxemburg (Miriam Vollmer)