Das UBA und das EU-Klimaziel (und was das bedeutet)

Noch zwei Monate, dann startet der nationale Emissi­ons­handel. CO2 hat dann auch in den Sektoren Verkehr und Heizung einen Preis. Der „große“ Emissi­ons­handel für Kraft­werke und Indus­trie­an­lagen mit mehr als 20 MW läuft sogar schon seit 2005.

Doch ein „Weiter so“ wird es wohl nicht geben. Es besteht offenbar weitgehend Einigkeit zwischen den Organen der EU, dass in der EU mehr als die bisher geplanten 40% gespart werden soll, nur das Ausmaß scheint umstritten zu sein: Das Parlament strebt 60% Minderung gegenüber 1990 bis 2030 an. Die Kommission hat sich für 55% ausgesprochen.

Doch ist das möglich und wie kommt man dahin? Hierzu hat das Umwelt­bun­desamt (UBA) ein umfang­reiches Papier zu der Anhebung der EU-Klima­ziele heraus­ge­geben. Die Bundes­be­hörde bezieht dabei klar Stellung. 60% seien möglich und notwendig. Besonders inter­essant ist aber nicht nur diese bis zu einem gewissen Grade erwartbare Position. Sondern die Vorschläge, wie diese Einsparung in den nächsten zehn Jahren erreicht werden soll.

Im EU-Emissi­ons­handel befür­wortet das UBA eine schnellere Reduzierung des Caps schon ab dem nächsten Jahr. Dabei sollen nicht die Zutei­lungs­mengen sinken, sondern die Verstei­ge­rungs­mengen. Das bedeutet höhere Preise. Statt 2,2% jährlicher Verrin­gerung der Zerti­fi­kat­menge würde um 4,2% (beim 55%-Ziel) oder 4,6% (beim 60%-Ziel verringert).

In den anderen Sektoren, vor allem Heizung und Verkehr, spricht sich das UBA für einen gemein­schafts­weiten Non-ETS-Emissi­ons­handel aus, ähnlich wie der, den Deutschland ab Januar 2021 einführen wird. Der Wunsch ist verständlich, denn Deutschland allein ist als Markt reichlich klein, und Märkte werden besser, wenn sie größer sind, weil dann einzelne Teilnehmer weniger ins Gewicht fallen und deswegen auch Preise weniger manipu­lierbar sind und die Preis­schwan­kungen nicht so stark. Das UBA weist auch darauf hin, dass ein separater gemein­schafts­weiter Emissi­ons­handel für Verkehr und Heizung unerwünschte Wechsel­wir­kungen mit dem bereits bestehenden EU-ETS vermeiden würde. Neben diesen markt­ba­sierten Instru­menten setzt das UBA auf Ordnungs­recht, um einen einheit­lichen Mindest­standard zu gewärhleisten.

Doch was heißt das nun alles für Unter­nehmen in Deutschland? Zunächst: Es wird ernst. Es ist inzwi­schen nahezu auszu­schließen, dass es bei den 40% Einspa­rungen bleibt, die der heutigen Emissi­ons­han­dels­richt­linie zugrunde liegen. Das bedeutet aber in jedem Fall deutlich höhere Preise. Darauf müssen sich Unter­nehmen einstellen, wenn sie kalku­lieren, wenn sie Preis­ga­rantien geben, wenn sie Preis­gleit­klauseln entwi­ckeln (Miriam Vollmer).

2020-10-30T21:24:15+01:0030. Oktober 2020|Emissionshandel|

Verkehrs­recht: Viel Lärm um nichts

In letzter Zeit ist wieder verstärkt von der Lärmbe­lastung durch Verkehr zu hören: Zum Beispiel im Zusam­menhang mit der Debatte über Motor­radlärm, die diesen Sommer von einer Bürger­meis­terin aus dem Schwarzwald angestoßen worden war. Grund­sätzlich gibt es in der Europäi­schen Union eine Richt­linie gegen Umgebungslärm. Die steckt ähnlich wie die Luftqua­li­täts­richt­linie hohe Ziele zur Vermeidung von Umweltbelastungen.

Insofern liegt es nahe, dass bei Überschreiten der Grenz­werte Anwohner – so wie bei den Stickoxid-Überschrei­tungen – klagen können. Ihr Anspruch könnte sich dann auf geeignete Maßnahmen richten, den Lärm zu mindern und damit unter den Grenzwert zu bringen. Welche Maßnahmen aber sind geeignet – und angesichts der Einschrän­kungen des Verkehrs zu rechtfertigen?

Darüber hatte das Verwal­tungs­ge­richt Koblenz im Juli in einem Urteil zu befinden. Ein Anwohner einer lauten, vielbe­fah­renen Straße hatte wiederholt geklagt, weil die Stadt trotz Grenz­wert­über­schrei­tungen untätig geblieben war.

Zunächst hatte ihm das VG Koblenz in einer Entscheidung vom Dezember 2015 recht gegeben. Da die Lärmbe­lastung die Grenze der Zumut­barkeit überschreite, sei die Stadt als Beklagte verpflichtet, die Anträge des Klägers zur Verbes­serung unter pflicht­ge­mäßer Ausübung des Ermessens zu bescheiden.

Die Stadt müsse zunächst prüfen, welche Lärmre­duktion – unter Umständen durch eine Kombi­nation von Maßnahmen – erreicht werden könne. Sie müsse weiterhin prüfen, ob die Maßnahmen zu einer spürbaren Entlastung führen können. Mit Blick auf die Verkehrs­in­ter­essen und ihre Kosten müssten sie auch angemessen sein.

In dem aktuellen Urteil hat das VG nun die Klage abgewiesen. Diesmal hatte der Kläger ganz konkrete Maßnahmen einge­fordert, beispiels­weise eine weitere Geschwin­dig­keits­be­schränkung. Das Gericht war der Auffassung, dass die Maßnahmen nur wenig bewirken würden, und insbe­sondere nicht ausreichen würden, den Grenzwert einzu­halten. Vor diesem Hinter­grund seien die Einschrän­kungen des Verkehrs nicht zu rechtfertigen.

Für den Kläger mag die Entscheidung enttäu­schend sein. Aller­dings war sie aufgrund des Prüfpro­gramms der ersten Entscheidung darin schon angelegt, auch wenn letztlich viele offene Wertungen mit der Frage verbunden sind, ob eine Maßnahme geeignet und angemessen ist (Olaf Dilling).

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2020-09-23T11:35:28+02:0022. September 2020|Umwelt, Verkehr|

Wie kommen die eigentlich darauf? – Warum Karlsruhe über Europa­recht entscheidet

Zum Urteil des BVerfG vom 5.05.2020

2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16

Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) hat am vergan­genen Dienstag über das Anlei­hen­kauf­pro­gramm PSPP der Europäi­schen Zentralbank (EZB) entschieden und dieses für – zumindest vorüber­gehend – unver­einbar mit dem Grund­gesetz erklärt. Genauer gesagt hat das BVerfG festge­stellt, dass Bundestag und Bundes­re­gierung gegen das Demokra­tie­prinzip verstoßen, da sie es unter­lassen habe, geeignete Maßnahmen gegen das PSPP der EZB zu ergreifen. Zugleich stellte sich das BVerfG damit erstmalig gegen ein Urteil des Europäi­schen Gerichtshofs (EuGH).Wie aber kommt das BVerfG dazu, überhaupt über ein EU-Programm zu entscheiden?

Tatsächlich ist die Entscheidung des BVerfG durchaus Teil und vorläu­figer Höhepunkt einer seit einigen Jahren andau­ernden Ausein­an­der­setzung zwischen dem BVerfG und dem EuGH. Ursprung dessen war die Aussage des damaligen Präsi­denten der EZB Mario Draghi im Jahre 2012, „to do whatever it takes to preserve the euro.“ Als Reaktion auf die Eurokrise kündigte er an, dass die EZB „innerhalb [ihres] Mandates alles Erfor­der­liche tun werde, um den Euro zu erhalten.“ Hierzu sollten unter bestimmten Voraus­set­zungen in unbegrenzter Höhe Staats­an­leihen ausge­wählter Mitglied­staaten von dem Eurosystem erworben werden können.

Das Eurosystem besteht aus der EZB sowie den natio­nalen Zentral­banken der Mitglied­staaten, welche den Euro als gemeinsame Währung haben.
Die Ankün­digung dieses sog. Outright-Monetary-Programms (OMT-Programm) sollte sodann Gegen­stand einer Verfas­sungs­be­schwerde vor dem BVerfG werden. Die Beschwer­de­führer waren nämlich der Ansicht, dass die Ankün­digung des OMT-Programmes nicht mehr von dem Mandat der EZB, d.h. Währungs­po­litik zu betreiben, gedeckt sei. Zudem würde es gegen das im Unions­recht geltende Verbot der monetären Haushalts­fi­nan­zierung (Art. 123 AEUV) verstoßen. Unter dem Verbot der monetären Haushalts­fi­nan­zierung ist – verein­facht gesagt – das Verbot zu verstehen, dass weder die EZB noch die natio­nalen Zentral­banken den Mitglied­staaten Kredite gewähren dürfen.
Histo­risch bedeutsam an diesem Verfahren war, dass das BVerfG das erste Mal dem EuGH eine Rechts­frage zur vorhe­rigen Entscheidung vorlegte. Das BVerfG versuchte dem EuGH in seinem Vorla­ge­be­schluss zwar mit eindrück­lichen Worten klar zu machen, dass es das OMT-Programm als unions­rechts­widrig ansieht, schloss sich jedoch letzt­endlich dem EuGH an, nachdem dieser das OMT-Programm der EZB für mit dem Unions­recht vereinbar erklärt hatte.

Dem Urteil des BVerfG von vergan­genem Dienstag liegt ein ähnlicher Sachverhalt zu Grunde. Auch hier hatte sich das BVerfG letzt­endlich wieder mit der Frage zu beschäf­tigen, ob und unter welchen Voraus­set­zungen die EZB ein Staats­an­lei­hen­kauf­pro­gramm beschließen darf, ohne dabei gegen Unions­recht zu verstoßen. Diesmal ging es aller­dings nicht um das OMT-Programm, sondern um das sog. Public Sector Asset Purchase Programme (PSPP), im Rahmen dessen das Eurosystem auf Grundlage eines Beschlusses der EZB unter bestimmten Bedin­gungen vor allem Staats­an­leihen aber auch andere Schuld­titel kauft.

Auch in dem jetzigen Verfahren hatte das BVerfG zunächst den EuGH angerufen und um Klärung der unions­recht­lichen Fragen gebeten. So wollte das BVerfG, wie schon im OMT-Verfahren, insb. wissen, ob das Anlei­hen­kauf­pro­gramm der EZB die Kompetenz der EZB überschreite und ob es gegen das Verbot monetärer Haushalts­fi­nan­zierung verstoße. Auch in dem diesem Urteil voraus­ge­gan­genen Vorla­ge­be­schluss machte das BVerfG deutlich, dass es das jetzige PSPP der EZB für unions­rechts­widrig hält.
Der Europäische Gerichtshof kam jedoch wieder zu dem Schluss, dass das Anlei­hen­kauf­pro­gramm der EZB kompe­tenz­gemäß ist und auch nicht gegen das Verbot der monetären Haushalts­fi­nan­zierung verstößt.

Same procedure as last time” konnte man bis hierhin denken. Aller­dings entschied das BVerfG nun entgegen den Ausfüh­rungen des EuGHs, dass das PSPP – zumindest teilweise – „offen­sichtlich“ unions­rechts­widrig und damit auch unver­einbar mit dem Grund­gesetz sei. Bundestag und Bundes­re­gierung hätten es unter­lassen, geeignete Maßnahmen gegen das PSPP zu ergreifen.

1. Prozes­sualer Hinter­grund der Entscheidung

Wie kommt es dazu, dass ein deutsches Verfas­sungs­ge­richt – abwei­chend vom an sich zustän­digen EuGH – über die Unions­recht­mä­ßigkeit von Handlungen europäi­scher Organe im Rahmen einer Verfas­sungs­be­schwerde, die an sich für die Überprüfung von Grund­rechts­ver­let­zungen vorge­sehen ist, entscheidet?

Entspre­chend der Europäi­schen Verträge ist allein der Europäische Gerichtshof für die Auslegung von Unions­recht zuständig (Art. 267 AEUV). So wird gewähr­leistet, dass das Unions­recht in allen Mitglied­staaten einheitlich angewendet wird und letzt­endlich kein Flicken­teppich dadurch entsteht, dass jeder Mitglied­staat das Unions­recht anders inter­pre­tiert. Die Urteile des EuGHs sind daher auch für die natio­nalen Gerichte bindend. Dies erkennt das BVerfG auch grund­sätzlich an und betont daher ausdrücklich den Ausnah­me­cha­rakter der jetzigen Entscheidung.

Wie ist es vor diesem Hinter­grund möglich, dass das BVerfG in seiner PSPP-Entscheidung letzt­endlich doch Unions­recht abwei­chend vom Europäische Gerichtshof auslegt? Das BVerfG bedient sich hier einer beson­deren Konstruktion, die es bereits in seinem Maastricht-Urteil im Jahre 1993 entwi­ckelt hat. Das Unions­recht gilt in Deutschland aufgrund des Zustim­mungs­ge­setzes des Deutschen Bundes­tages zu den Europäi­schen Verträgen. Der Bundestag hat damit der Europäi­schen Union und ihren Organen die in den Europäi­schen Verträgen nieder­ge­legten Kompe­tenzen übertragen und dadurch zugleich ermög­licht, dass das Unions­recht auch in Deutschland ohne weiteres gilt. Dies sei aufgrund des in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG nieder­ge­legten Demokra­tie­prinzips aller­dings nur zulässig, solange die Kompe­tenzen von vornherein festgelegt sind. Der Bundestag als unmit­telbar demokra­tisch legiti­miertes Organ müsse alle wesent­lichen Entschei­dungen selbst treffen und dürfe daher nicht seine Entschei­dungs­be­fug­nisse derart auf die Europäi­schen Organe übertragen, dass diese sich selber weitere Kompe­tenzen geben können. Der Europäi­schen Union und ihrer Organe darf daher keine sog. Kompetenz-Kompetenz zustehen, d.h. die Kompetenz sich eigene Kompe­tenzen zu geben. Agieren die Organe der EU offen­sichtlich außerhalb ihrer Kompe­tenzen, so ist deren Handeln nicht mehr von der ursprüng­lichen Kompe­tenz­über­tragung durch den Bundestag gedeckt und kann daher auch keine inner­staat­liche Wirkung beanspruchen.

Aufgrund dessen behält sich das BVerfG vor, zu prüfen, ob die Organe der Europäi­schen Union die ihr in den Verträgen einge­räumte Befug­nisse offen­sichtlich überschreiten (sog. ultra-vires Kontrolle). Denn dann läge letzt­endlich ein Verstoß gegen das in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG veran­kerte Demokra­tie­prinzip vor. Über diese Konstruktion ist es dem BVerfG, das an sich nur die Verein­barkeit von Rechts­akten mit Verfas­sungs­recht prüfen kann, im Endeffekt möglich, sich auch – als Vorfrage – mit der Auslegung von Unions­recht zu beschäftigen.

Damit dies auch im Rahmen der Verfas­sungs­be­schwerde rügefähig ist, bedient sich das BVerfG einer weiteren Konstruktion. Im Rahmen der Verfas­sungs­be­schwerde sind nämlich nur Grund­rechte oder grund­rechts­gleiche Rechte rügefähig. Beschwer­de­befugt sind die Beschwer­de­führer vorliegend aus dem grund­rechts­gleichen Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Das Wahlrecht umfasst – verein­facht gesagt – auch das Recht, dass der Bundestag noch etwas Wesent­liches zu sagen hat. Daher ist das Wahlrecht auch dann verletzt, wenn der Bundestag der Europäi­schen Union die Kompetenz-Kompetenz übertragen würde bzw. die Organe offen­sichtlich außerhalb ihrer Zustän­dig­keiten handeln.
Auch hinsichtlich des mit der Verfas­sungs­be­schwerde angegrif­fenen Gegen­standes bedarf es einer gewissen Konstruktion. Der Beschluss der EZB über das PSPP kann nämlich nicht unmit­telbar Gegen­stand der Entscheidung des BVerfG sein, da Gegen­stand einer Verfas­sungs­be­schwerde nur Akte der deutschen öffent­lichen Gewalt sein können. Rechtsakte von Organen der Europäi­schen Union sind daher unmit­telbar kein tauglicher Gegen­stand einer Verfas­sungs­be­schwerde. Unmit­tel­barer Gegen­stand der Verfas­sungs­be­schwerde ist vorliegend vielmehr das Unter­lassen von Bundestag und Bundes­re­gierung, geeignete Maßnahmen gegen das PSPP zu ergreifen. Der Beschluss der EZB über das PSPP wird damit – zuläs­si­ger­weise – mittelbar Gegen­stand der Verfassungsbeschwerde.

2. Inhalt der Entscheidung

Aufgrund dieser recht­lichen Konstruk­tionen war es dem BVerfG sodann nur möglich von der Entscheidung des EuGHs abzuweichen, wenn es das Urteil des Gerichtshofs zunächst selbst als offen­sichtlich ultra-vires einstuft. Die Auslegung der Verträge seitens des EuGH müsse dafür „schlech­ter­dings nicht mehr nachvoll­ziehbar[…] und daher objektiv willkürlich“ sein.

Obwohl das BVerfG betont, gegen die Entscheidung des EuGHs erheb­liche Bedenken zu haben, erklärt es die Entscheidung des Gerichtshofs lediglich in einem Punkt für ultra-vires. Dies liegt an dem zuvor skizzierten Prüfungs­maßstab des Verfas­sungs­ge­richts. Denn bloße recht­liche Bedenken reichen nicht aus. Es bedarf einer „schlech­ter­dings nicht mehr nachvoll­zieh­baren“ Auslegung.

Die Frage, ob die EZB durch ihr Staats­an­lei­hen­kauf­pro­gramm PSPP gegen das Verbot monetärer Haushalts­fi­nan­zierung verstößt, also letzt­endlich den Mitglied­staaten hierdurch Kredite gewährt werden, sieht das BVerfG zwar kritisch, lässt aber letzt­endlich die Auslegung des Gerichtshofs gelten und sieht hierin keine offen­sicht­liche Kompe­tenz­über­schreitung des Gerichtshofs.

Lediglich die Entscheidung des EuGHs, dass die EZB im Rahmen ihrer Kompe­tenzen gehandelt habe, sieht das BVerfG bzgl. eines Teilaspekts – nämlich der Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung – als offen­sichtlich ultra-vires.
Nach den Europäi­schen Verträgen ist die EZB nur dazu berechtigt, währungs­po­li­tische Maßnahmen zu ergreifen. Für wirtschafts­po­li­tische Maßnahmen sind weiterhin die Mitglied­staaten zuständig. Die EZB darf lediglich die Wirtschafts­po­litik der Mitglied­staaten unter­stützen. Ob das Kaufen von Staats­an­leihen aufgrund seiner wirtschafts­po­li­ti­schen Effekte noch als Währungs­po­litik angesehen werden kann, ist auch unter Ökonomen äußerst umstritten. Der EuGH gewährt der EZB aufgrund ihrer Unabhän­gigkeit und der darin zum Ausdruck kommenden ökono­mi­schen Expertise daher auch einen weiten Beurtei­lungs­spielraum im Hinblick auf die Quali­fi­zierung der Maßnahme. Letzt­endlich billigte der EuGH somit auch das Anlei­hen­kauf­pro­gramm, da es – entspre­chend der Beurteilung der EZB – primär den Zweck habe, die Infla­ti­onsrate bei ca. 2 % zu halten. Bei der Gewähr­leistung einer stabilen Infla­ti­onsrate handelt es sich, was unstrittig ist, um einen währungs­po­li­ti­schen Zweck.

Im Rahmen der Kompe­tenz­aus­übung ist jedoch nach den Europäi­schen Verträgen (Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 4 EUV) auch die Verhält­nis­mä­ßigkeit zu wahren. D.h. „die Handlungen der Organe [müssen] geeignet [sein], die mit der fraglichen Regelung zuläs­si­ger­weise verfolgten Ziele zu erreichen, und [dürfen] nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Errei­chung dieser Ziele geeignet und erfor­derlich ist.“
Diese Prüfung habe der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil in einer „metho­disch nicht nachvollziehbare[n]“ Art und Weise vorge­nommen, urteilte das BVerfG am vergan­genen Dienstag, sodass das Urteil des Gerichtshofs in diesem Punkt offen­sichtlich ultra-vires sei.

Der Europäische Gerichtshof habe zwar eine Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung vorge­nommen, aller­dings klammere der Gerichtshof hierbei die tatsäch­lichen (wirtschafts­po­li­ti­schen) Wirkungen des PSPP aus. Damit fehle es an einer an sich erfor­der­lichen Abwägung des währungs­po­li­tisch verfolgten Ziels der Preis­sta­bi­lität (Infla­ti­onsrate bei ca. 2 %) mit den tatsäch­lichen wirtschafts­po­li­ti­schen Auswir­kungen des PSPP. Dies sei metho­disch nicht mehr vertretbar, da so der Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz letzt­endlich ins Leere laufen würde.

Da das BVerfG bzgl. dieses Teilaspektes das Urteil des EuGHs für ultra-vires erklärt hat, konnte das Verfas­sungs­ge­richt in einem zweiten Schritt prüfen, ob das PSPP der EZB tatsächlich nicht der von ihm gefor­derten Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung standhält. Das BVerfG kommt hier zu dem Schluss, dass es die Verhält­nis­mä­ßigkeit nicht abschließend prüfen kann, da die EZB, soweit ersichtlich, überhaupt keine Abwägung vorge­nommen habe. Es läge ein Abwägungs- und Darle­gungs­ausfall vor, da die EZB sich nicht erkennbar mit einer Abwägung des währungs­po­li­ti­schen Zieles mit den mit dem PSPP zwangs­läufig verbun­denen wirtschafts­po­li­ti­schen Auswir­kungen ausein­an­der­ge­setzt habe.
Wegen dieses Abwägungs- und Darle­gungs­aus­falls sei daher auch das Anlei­hen­kauf­pro­gramm PSPP der EZB – zumindest vorüber­gehend – offen­sichtlich ultra-vires und damit verfassungswidrig.

Da das BVerfG kein Unions­recht für nichtig erklären kann und auch keine Unions­organe zu irgend­welchen Handlungen verpflichten kann, hat die Feststellung der Unver­ein­barkeit mit dem Grund­gesetz lediglich für deutsche Staats­organe unmit­telbare – und damit überschaubare – Folgen. Der Verstoß gegen das Grund­gesetz liegt daher auch gerade in dem pflicht­wid­rigen Unter­lassen von Bundestag und Bundes­re­gierung, geeig­neten Maßnahmen gegen die fehlende Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung seitens der EZB ergriffen zu haben. Folglich werden Bundestag und Bundesrat verpflichtet, soweit möglich auf die EZB einzu­wirken, eine entspre­chende Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung vorzu­nehmen. Die deutsche Bundesbank hat die Beschlüsse der EZB, an welche sie norma­ler­weise selbst bei einer Kollision mit natio­nalem Recht gebunden ist, unange­wendet zu lassen und darf nicht an deren Umsetzung und Vollzug mitwirken. Dies gelte aber nur dann, wenn die EZB nicht innerhalb von drei Monaten die erfor­der­liche Abwägung nachholt. Das BVerfG gewährt der EZB insoweit eine Frist zur Heilung des vorge­fun­denen Verstoßes. Dass die EZB innerhalb von drei Monaten eine entspre­chende Abwägung nachliefern wird, ist zu erwarten. Abzuwarten bleibt aller­dings, ob dem Verfas­sungs­ge­richt die Abwägung genügen wird, wenn es erneut zur Überprüfung angerufen werden sollte.

3. Unmit­telbare Folgen des Urteils

Mit der Entscheidung von vergan­genem Dienstag hat das BVerfG erstmalig eine Entscheidung des EuGHs partiell für ultra-vires erklärt und damit die grund­sätzlich bestehende Bindungs­wirkung des voran­ge­gan­genen Urteils des EuGHs teilweise verneint. Es hat damit zum ersten Mal tatsächlich von den in seiner Maastricht-Entscheidung aufge­stellten Grund­sätzen für die Unbeacht­lichkeit von Unions­recht Gebraucht gemacht.

Der Europäische Gerichtshof hat auf das Urteil des BVerfG mit einer knappen und nüchternen Presse­mit­teilung reagiert, in welcher er auf die Bindungs­wirkung von Urteilen des EuGHs für nationale Gerichte hinweist. Nur so werde „die Gleichheit der Mitglied­staaten in der von ihnen geschaf­fenen Union gewahrt.“ Die Europäische Kommission prüft zudem momentan, ob sie diesbe­züglich recht­liche Schritte gegen Deutschland, wie zum Beispiel ein Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahren, einleiten wird (Fabius Wittmer).

2020-05-12T17:08:34+02:0012. Mai 2020|Allgemein|