Hassen Sie den Satz „Da kann man nichts machen“ eigentlich auch so wie wir? Irgendetwas ist hart rechtswidrig, aber es gibt keinen Weg, um der Sache beizukommen, und weil die Gegenseite – das ist bei uns Verwaltungsrechtlern oft der Staat – das genau weiß, bemüht sie sich auch gar nicht erst, die Sache mit der Rechtmäßigkeit so ganz genau zu nehmen.
Lange verhielt es sich mit Verstößen gegen das Europarecht so, vor allem in Bezug auf Grundrechte. Die Grundrechte der EU stehen in der Grundrechtscharta, der GRC, die seit 2009 in allen EU-Mitgliedstaaten abgesehen vom Noch-EU-Staat Großbritannien und Polen gilt. Die Grundrechte der GRC sehen den deutschen Grundrechten im Grundgesetz alles in allem recht ähnlich, aber oft half einem das nicht, wenn ein deutsches letztinstanzliches Gericht eine Entscheidung getroffen hatte, deren Grundrechtskonformität man gern überprüft hätte. Denn beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) kann man als Unternehmen oder Bürger nicht gegen Urteile deutscher Gerichte vorgehen, weil es keine EU-Verfassungsbeschwerde gibt. Und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stand seit der Entscheidung „Solange II“ auf dem Standpunkt (Beschluss vom 22. Oktober 1986, Az: 2 BvR 197/83), dass es für Verfassungsbeschwerden wegen Grundrechtsverletzungen in Bezug auf abgeleitetes Gemeinschaftsrecht unzuständig ist, solange der EU-Grundrechtsschutz stabil bleibt.
Für das Umwelt- und Energierecht hatte „Solange II“ weitreichende Folgen. Beide Materien sind sehr, sehr weitgehend vergemeinschaftet, bestehen also zum allergrößten Teil aus umgesetztem EU-Recht, von der Stromrichtlinie bis zur Emissionshandelsrichtlinie, der Industrieemissionsrichtlinie und nicht zuletzt der Verbraucherrichtlinie, die auch im Energiebereich wichtig ist. Hier musste also ein Fachgericht – etwa das Bundesverwaltungsgericht – davon überzeugt werden, die Frage der Vereinbarkeit der jeweils fallentscheidenden Frage mit EU-Recht im Wege des Vorlageverfahrens nach Art. 267 AEUV dem EuGH vorzulegen. Wenn dieser Anregung nicht stattgegeben wurde, gab es praktisch keinen Weg mehr zu einer Überprüfung, denn die Rüge, hier sei der gesetzliche Richter vorenthalten worden, ist unserer Erfahrung nach eine eher theoretische als praktische Möglichkeit. Hinzu kam: Rügte man im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung deutscher Grundrechte bei der Umsetzung von EU-Recht auch die Verletzung von primärem EU-Recht selbst, war dies faktisch völlig wirkungslos, denn das BVerfG legte dem EuGH aus Prinzip nicht vor.
Diese oft ausgesprochen ärgerliche Sackgasse des Rechtsschutzes hat der Erste Senat mit der Entscheidung „Recht auf Vergessen II“ (Beschluss vom 06.11.2019, 1 BvR 276/17) nun gründlich umgebaut. Während er sich bisher für praktisch unzuständig erklärt hatte, wenn es um EU-Grundrechte geht, will er nun kontrollieren, ob deutsche Behörden und Gerichte die Unionsgrundrechte richtig angewendet haben. Das BVerfG ist damit schlagartig nicht mehr nur das Gericht des Grundgesetzes, sondern auch ein Gericht der GRC, die es immer dann heranziehen will, wenn es um umgesetztes oder angewandtes Unionsrecht geht, also praktisch um 90% des Umwelt- und Energierechts. In diesem Segment seiner Rechtsprechung will das BVerfG künftig auch Auslegungsfragen vorlegen. Das ist bisweilen erfreulich, dürfte aber in vielen Fällen künftig zu noch längeren Verfahren bis zu endgültigen Klärungen führen.
Insgesamt meinen wir: Das BVerfG ist im Umwelt- und Energierecht mit diesem Schachzug wieder zurück auf dem Spielfeld der Relevanz. Hier tritt etwas Paradoxes ein: Indem das BVerfG zugibt, in vielen Fällen nur noch ein Gericht „unterhalb“ des EuGH zu sein, bringt es sich wieder aktiv ins Spiel und gewinnt faktisch wieder an Macht. Zwar sind viele Fragen noch ungeklärt, aber wir freuen uns, künftig voraussichtlich doch seltener die Auskunft geben zu müssen, dass in irgendeinem Fall „nichts mehr zu machen“ sei (Miriam Vollmer).
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