Twitters heimliche Weltherrschaft
Trumps politisches Schicksal war von Anfang an eng mit dem sozialen Netzwerk Twitter verknüpft. Immerhin entwickelte er einen Regierungsstil, der weniger von Sacharbeit mit administrativen Stäben als von Alleingängen in direkter Ansprache „des Volkes“ geprägt war. Oft, heißt es, hätten seine Minister zuerst über Twitter über Änderungen des Regierungskurses erfahren. In gewisser Weise ist es insofern folgerichtig, dass auch am Ende seiner Amtszeit sein Schicksal endgültig durch Twitter besiegelt zu werden schien. Denn ebenso wie fast alle großen sozialen Netzwerke sperrte Twitter seinen Account.
Es ist eigentlich kein Wunder, dass das in der Öffentlichkeit Diskussionen über die Macht und die rechtliche Disziplinierung sozialer Netzwerke ausgelöst hat. Ganz besonders heftig wurde – wie sollte es anders sein – wieder bei Twitter diskutiert. Nach dem Sturm aufs Capitol kam der nächste Streit auf die Tagesordnung, wobei dem Ex-Präsidenten diesmal mehr Sympathien entgegen gebracht wurden. Jedenfall sei es, so eine verbreitete Auffassung, nicht Sache sozialer Netzwerke, einen Präsidenten zu entmachten. Auch die Bundeskanzlerin äußerte sich zu dem Fall. Ihrer Meinung nach habe Twitter mit der Sperre in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit eingegriffen.
Bei diesen Worten müssen studierte Juristen stutzen. Denn eine Binsenweisheit des öffentlichen Rechts ist, dass Grundrechte den Bürger oder allgemein private Akteure, also auch Unternehmen oder zivilgesellschaftliche Organisationen vor dem Staat schützen. Nicht umgekehrt. Und bekanntlich handelt es sich bei Twitter letztlich um ein Privatunternehmen. Wohingegen Donald Trump, zumindest zum Zeitpunkt der Sperre noch, bei Twitter als höchster Repräsentant der Vereinigten Staaten auftrat. Kann ein Privatunternehmen den Präsidenten in seiner Meinungsfreiheit verletzen? Für Juristen verkehrte Welt.
Andererseits ist die Welt auch eine andere als im 19. Jahrhundert, als sich die Grundrechte weltweit, zumindest dem Anspruch nach, durchsetzten. Denn im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts waren öffentliche Infrastrukturen zu ganz wesentlichen Teilen in den Händen des Staates. Statt zu twittern, wurden Briefe oder Zeitungsartikel geschrieben, die im schlimmsten Fall einem Zensor vorgelegt werden mussten und im besten Fall von einer Kutsche mit wackeren Pferdchen befördert wurden. Und vermutlich war der Kutscher ein Postbeamter. Wenn nun soziale Netzwerke wie Twitter heute ähnliche Funktionen erfüllen, wie früher die staatliche Post, dann muss durchaus drüber nachgedacht werden, ob für die Netzwerke nicht auch Grundrechte gelten. Juristen behelfen sich in diesen Fällen häufig mit der Figur der mittelbaren Drittwirkung: Gemeint ist, dass Private zwar nicht direkt an Grundrechte gebunden sind. Aber die Grundrechte über Auslegungsspielräume in Gesetzen dennoch in die Rechtsverhältnisse zwischen Bürger und Infrastrukturunternehmen einfließen.
Nun, das erklärt, warum Twitter in die Meinungsfreiheit eingreifen kann. Aber wieso ausgerechnet in die „Meinungsfreiheit“ des gewählten Präsidenten, der ja keineswegs nur in seiner Eigenschaft als Privatmann Katzenvideos gepostet hat (er hat übrigens auch weder Hund noch Katze). Anders gefragt: Wieso sollte sich ein amtierender Präsident auf die Meinungsfreiheit berufen können, wenn er dazu aufruft, die Wahl seines Nachfolgers mit Gewalt zu sabotieren? Dies bleibt in der bisherigen Diskussion häufig unterbelichtet.
Genauso übrigens wie das Argument der Meinungsfreiheit lange Zeit kaum eine Rolle spielte, wenn es darum ging, Hassbotschaften oder Urheberrechtsverletzungen zu verfolgen – und die Durchsetzung geltenden Rechts ziemlich selbstverständlich auch von sozialen Netzwerken zu verlangen. Und wieso auch: Meinungsfreiheit findet da ihre Grenzen, wo durch Äußerungen allgemeine Gesetze verletzt werden. Und seien es die Äußerungen eines amtierenden Präsidenten. Denn, wie es in der Declaration of Independece von 1776 steht: „all men are created equal“ (Olaf Dilling).