Tempo 30: Weiter Stückwerk nach StVO

Ein erklärtes Ziel der aktuellen Straßen­ver­kehrs­rechts­reform war es, den Kommunen mehr Gestal­tungs­spiel­räume einzu­räumen. Anderer­seits ist für die FDP, die bekanntlich auf Bundes­ebene das Verkehrs­ressort stellt, ein Kernan­liegen, generell keine Tempo­limits für Kraft­fahr­zeuge einzu­führen und in den Städten kein „flächen­de­ckendes“ Tempo 30.

Insofern bleiben die Gestal­tungs­spiel­räume der Kommunen weiter auf Ausnahmen beschränkt. So können nun auch vor Spiel­plätzen, auf hochfre­quen­tierten Schul­wegen, Einrich­tungen für Menschen mit Behin­de­rungen oder an Fußgän­ger­über­wegen (Zebra­streifen) strecken­be­zogene Tempo 30-Anord­nungen getroffen werden. Wo bereits jetzt, etwa vor Schulen, Kitas, Kinder­gärten, Alten- und Pflege­heimen oder Kranken­häusern, Tempo 30 gilt, können Lücken­schlüsse nun leichter angeordnet werden (überbrückt werden können bis zu 500 m statt, wie bisher 300 m).

Wie ist es aber nun, wenn eine Gemeinde beschließt, auch auf den inner­ört­lichen Haupt­straßen Tempo 30 anzuordnen? Wenn es sich nicht um Kreis, Landes- oder Bundes­straßen handelt, könnte das nach dem Wortlaut der StVO erst einmal möglich sein. Denn neben Straßen des überört­lichen Verkehrs sind nur Vorfahrts­straßen katego­risch von Zonen­an­ord­nungen ausge­schlossen. Und theore­tisch wäre es denkbar, Anordnung der Vorfahrts­straße (Zeichen 306) durch „rechts vor links“ oder in begrün­deten Ausnahmen auch durch indivi­duelle Vorfahrts­re­ge­lungen (Zeichen 301 / 205) zu ersetzen. 

Dem sind jedoch enge Grenzen durch die Allge­meine Verwal­tungs­vor­schrift zur StVO und die Recht­spre­chung gesetzt. Denn es muss in den Städten ein funkti­ons­fä­higes Vorfahrts­stra­ßennetz erhalten bleiben, das dem Wirtschafts­verkehr, ÖPNV und Rettungs­diensten dient. Wenn also eine inner­ört­liche Vorfahrts­straße herab­ge­stuft wird, muss nach aktuell geltendem Recht irgendwo eine andere Straße die Funktion im Vorfahrts­stra­ßenetz erfüllen. Das wird sich selten ohne weiteres finden lassen.

Insofern sind die Gemeinden auf die Möglich­keiten der strecken­be­zo­genen Tempo 30-Anord­nungen verwiesen, sie nun immerhin um weitere Tatbe­stände erweitert wurden. Insofern werden für die Kommunen die Karten für die Verkehrs- und Stadt­planung aktuell wieder neu gemischt. (Olaf Dilling)

 

2024-07-24T21:44:39+02:0024. Juli 2024|Allgemein, Verkehr, Verwaltungsrecht|

Verkehrs­recht für Alle?

Es ist also tatsächlich geschehen. Bundestag und Bundesrat haben sich auf ein neues Straßen­ver­kehrs­gesetz geeinigt. Und nicht nur weil gerade Fußball-EM ist, gilt der alte Spruch „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“. Denn dass der Gesetz­geber gesprochen hat, heißt ja nicht, dass alle Fragen geklärt sind.

Das betrifft zum einen die Tatsache, dass die Ermäch­ti­gungs­normen, die der Gesetz­geber erlassen hat, nun vom Verord­nungs­geber im  StVO-Entwurf konkre­ti­siert werden müssen. Ein solcher Entwurf liegt zwar bereits vor, muss jedoch noch an die Änderungen der StVG-Reform angepasst werden.

Zum Anderen stellt sich die Frage nach der Auslegung der neuen Bestim­mungen. Mit der Reform werden neue Schutz­güter einge­führt: Umwelt­schutz und städte­bau­liche Entwicklung etwa. Schon im Gesetz­ge­bungs­prozess hat sich gezeigt, dass sie im Spannungs­ver­hältnis zu den alther­ge­brachten Zielen von StVG und StVO stehen könnten: der Sicherheit und Ordnung im Verkehr.

Der Kompromiss, den der Vermitt­lungs­aus­schluss schließlich gefunden hat, lautet, dass die neuen Anord­nungs­zwecke „die Leich­tigkeit des Verkehrs berück­sich­tigen (müssen) und (…) die Sicherheit des Verkehrs nicht beein­träch­tigen“ dürfen. Hieraus ergibt sich ein Prüfungs- und Abwägungs­bedarf, dessen genaue Abarbeitung noch juris­ti­sches Neuland sind.

Sicher ist jeden­falls, dass in Zukunft viele straßen­ver­kehrs­recht­liche Entschei­dungen nicht bloß die Rechte von Kfz-Fahrern oder Haltern abwägen, sondern auch weitere Ziele in den Blick nehmen müssen. Das fügt sich zu neueren Entschei­dungen der Recht­spre­chung, die bereits stärker als in den Jahren zuvor die Rechte von nicht motori­sierten Verkehrs­teil­nehmern in den Blick nimmt. So etwa Fußgänger, die auf barrie­re­freie, funktionale Gehwege ohne parkende Autos bestehen, Fahrrad­fahrer, die sich an der Benut­zungs­pflicht dysfunk­tio­naler Radwege stören oder Schul­kinder, die auf dem Schulweg gefähr­liche Querungen bewäl­tigen müssen.

Für letztere schafft auch die Straßen­ver­kehrs­rechts­reform eine neue Möglichkeit: Für stark frequen­tierte Schulwege sollen Kommunen nun leichter strecken­be­zogen Tempo 30 anordnen können. (Olaf Dilling)

2024-06-21T17:21:24+02:0021. Juni 2024|Allgemein, Verkehr|

VGH BW: Schul­weg­si­cherheit auch präventiv möglich

Es ist ein Skandal des deutschen Verkehrs­rechts, dass erst Unfälle nachge­wiesen werden müssen, bevor Maßnahmen zur Verkehrs­si­cherheit ergriffen werden können. So jeden­falls ein in deutschen Amtsstuben weit verbrei­teter Mythos. Tatsächlich verlangen viele Straßen­ver­kehrs­be­hörden und manche Gerichte beispiels­weise für die Anordnung von Tempo 30 den Nachweis eines bereits bestehenden Unfall­schwer­punkts. Gerade wenn es um die Sicherheit von Schul­kinder geht, sorgt dies für Unver­ständnis. Denn wieso sollte man erst warten, bis buchstäblich Blut geflossen ist, wenn Unfälle vorher­sehbar sind?

Die Orien­tierung an der Unfall­sta­tistik lässt sich auch weder einem Gesetz bzw. einer Verordnung entnehmen, noch entspricht sie der höchst­rich­ter­lichen Recht­spre­chung. Vielmehr hat das BVerwG immer wieder entschieden, dass eine Prognose, aus der sich eine konkrete Gefahr ableiten lässt, ausrei­chend ist (z.B. BVerwG, Urteil vom 23.09.2010 – BVerwG 3 C 37.09, Rn. 31).

Kleines Mädchen im Kleid und Sonnenhut auf einer Straße mit Lattenzaun

Ein Beschluss des Verwal­tungs­ge­richtshofs Baden-Württemberg von Ende März diesen Jahres unter­stützt dies noch mal am Beispiel von Gefahren auf einem Schulweg. Das Gericht hat es für ausrei­chend angesehen, dass eine Straßen­querung unüber­sichtlich, schlecht einsehbar und das allge­meine Geschwin­dig­keits­niveau hoch ist, um eine quali­fi­zierte Gefah­renlage zu begründen. Damit ist die Voraus­setzung für die Anordnung von Tempo 30 gegeben.

In dem Fall hatte jemand gegen die Geschwin­dig­keits­be­grenzung auf einem Teilstück einer Kreis­straße geklagt. Die Klage war bereits vor dem Verwal­tungs­ge­richt Freiburg abgewiesen worden. Zu Recht, wie der Verwal­tungs­ge­richtshof befunden hat. Was die Gefah­ren­pro­gnose angeht, sei in der konkreten Situation eine an Sicherheit grenzende Wahrschein­lichkeit vermehrter Schadens­fälle dann nicht erfor­derlich, wenn es um hochrangige Rechts­güter wie Leib, Leben und bedeu­tende Sachwerte geht. Ein behörd­liches Einschreiten sei auch nach den Maßstäben des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO bereits bei einer gerin­geren Wahrschein­lichkeit des Schadens­ein­tritts zulässig und geboten.

Aller­dings gibt die Entscheidung den Behörden keineswegs einen pauschalen Freibrief, verkehrs­be­schrän­kende Maßnahmen überall dort anzuordnen, wo ein Schulweg die Straße quert. Vielmehr muss die konkrete Gefahr immer anhand der örtlichen Gegeben­heiten begründet werden, z.B. Ausbau und Funkti­ons­fä­higkeit der Fußver­kehrs­in­fra­struktur einschließlich vorhan­dener sicherer Querungs­mög­lich­keiten, Einseh­barkeit und Übersicht­lichkeit des Straßen­ver­laufs und typischer­weise gefah­rener Geschwin­dig­keiten. Eine genaue Prüfung durch Juristen ist daher weiterhin sinnvoll, um die Voraus­set­zungen einer Anord­nungen zu klären.

Trotzdem könnte die Entscheidung zu einem Umdenken im Bereich der Straßen­ver­kehrs­ver­waltung beitragen. Selbst an Straßen, an denen ein Zugang der Schule vorhanden ist und daher die Ausnahme des § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO greifen könnte, weigern sich Straßen­ver­kehrs­be­hörden aktuell in manchen Fällen standhaft, zugunsten der Schul­weg­si­cherheit Tempo 30 anzuordnen. Die Entscheidung des VGH Baden-Württemberg zeigt, dass ein Tempo­limit sogar dann angezeigt sein kann, wenn ein Straßen­ab­schnitt nicht direkt an der Schule liegt, aber häufig als Schul­wegstrecke frequen­tiert wird. (Olaf Dilling)

2024-05-17T13:31:01+02:0017. Mai 2024|Allgemein|