Indivi­duelle Netzent­gelte und Corona

Der § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV gewährt Indus­trie­un­ter­nehmen, die über mehr als 7.000 Stunden im Jahr mindestens 10 GWh Strom beziehen, ein beson­deres Netzentgelt. Sie zahlen also deutlich weniger für den Transport von Elektri­zität, als für den Transport der „ganz normalen“ Energie anfallen würde, die alle anderen Netznutzer im Netzgebiet beziehen. Beziehen sie praktisch immer, also mehr als 8.000 Stunden im Jahr, zahlen sie nur 10% des veröf­fent­lichten Netzentgeltes.

Dieses abgesenkte Netzentgelt ist aber kein Geschenk, auf das die Unter­nehmen so ohne Weiteres verzichten könnten. Insbe­sondere in einer krisen­haften Lage wie 2020 würde es manches betroffene Unter­nehmen vor ernst­hafte Probleme stellen. Denn in den Verträgen über die besondere Netznutzung heißt es regel­mäßig, dass das indivi­duelle Netzentgelt gewährt wird und im Gegenzug der Letzt­ver­braucher durch den Bandlast­bezug das Netz entlastet. Tritt diese Entlastung nicht ein, weil auf einmal weniger als 10 GWh oder nicht mehr über mehr als 7.000 Stunden bezogen wird, entfiele das besondere Netzentgelt. Die Kosten für elektrische Energie würden unbezahlbar, mindestens würden die Produkt­kosten deutlich steigen, was insbe­sondere bei Produkten, die auf dem Weltmarkt zu einheit­lichen Preise verkauft werden, proble­ma­tisch ist.

Um Unter­nehmen, die ohnehin mit dem Konjunk­tur­sturz aufgrund der aktuellen Situation kämpfen, nicht noch mit diesem Problem zu belasten, hat das Bundes­wirt­schafts­mi­nis­terium mit Datum vom 8. Juli 2020 einen Referen­ten­entwurf vorgelegt, der unter anderem vorsieht, dass Unter­nehmen 2020 ihr indivi­du­elles Netzentgelt auch dann behalten, wenn sie 2020 die Voraus­set­zungen nicht erfüllen. Es reicht, wenn dies 2019 der Fall war. Dies ergibt sich aus einem neuen § 32 Abs. 10 StromNEV, der lauten soll:

Soweit eine indivi­duelle Netzent­gelt­ver­ein­barung nach § 19 Absatz 2 Satz 2 bis 4 bis zum 30. September 2019 bei der Regulie­rungs­be­hörde angezeigt wordenist, besteht im Kalen­derjahr 2020 ein Anspruch auf Weiter­geltung des verein­barten indivi­du­ellen Netzent­gelts, wenn die Voraus­set­zungen im Kalen­derjahr 2019 erreicht worden sind. Wird der Anspruch nach Satz 1 geltend gemacht, ist § 19 Absatz 2 Satz 18 mit der Maßgabe anzuwenden, dass für die tatsäch­liche Erfüllung der Voraus­set­zungen auf das Kalen­derjahr 2019 abgestellt wird.“

Da § 19 Abs. 2 StromNEV nicht geändert wird, können Unter­nehmen entweder durch die Bezugs­struktur 2019 oder 2020 den erfor­der­lichen Nachweis führen. Viele Unter­nehmen würden aufatmen, denn noch im Mai äußerte sich die Bundes­netz­agentur (BNetzA) dahin­gehend, keine Ausnahmen zuzulassen.

Wie geht es nun weiter? Der Entwurf war zum Zeitpunkt der Veröf­fent­li­chung noch nicht innerhalb der Bundes­re­gierung abgestimmt. Bis zum 13. Juli lief zudem eine Stellung­nah­me­frist für die Öffent­lichkeit. Es ist anzunehmen, dass Entschei­dungen nach der Sommer­pause getroffen werden. Noch ist die Sache also nicht in trockenen Tüchern, doch immerhin hat sich die Politik der pande­mie­be­dingten Notlage angenommen (Miriam Vollmer).

2020-08-26T23:52:31+02:0026. August 2020|Energiepolitik, Industrie, Strom|

Gar nichts ist zu wenig: Die KOM beendet das Beihil­fe­prüf­ver­fahren für besondere NNE

Erinnern Sie sich an meine Air Vollmer? Meine leider imaginäre Fluglinie, in der dieje­nigen Passa­giere weniger für den Transport zahlen, die morgens um drei oder täglich fliegen, weil das weniger Kosten verur­sacht als unsereins als unvor­her­seh­barer Gelegen­heits­kunde. Genauso oder zumindest ähnlich ist es beim Transport von Strom, wo deswegen indus­trielle Kunden mit sehr hohem konstanten oder atypi­schem Strom­ver­brauch auch reduzierte Nutzungs­ent­gelte für Strom­netze zahlen.

Natürlich zahlt aber auch der Dauer­kunde bei der Air Vollmer für die Strecke Berlin – Paris nicht nichts. Denn schließlich verur­sacht er zwar weniger Kosten, aber nur von Luft und Liebe hebt kein Flugzeug ab. Entspre­chend fand auch die Europäische Kommission (KOM) die komplette Befreiung von Netznut­zungs­ent­gelten für Bandlast­kunden mit besonders hohem, konstanten Strom­ver­brauch falsch, die die Bundes­re­publik durch eine Änderung der Strom­netz­ent­gelt­ver­ordnung (StromNEV) 2011 erlaubt hatte. Auf Beschwerden u. a. vom Bund der Energie­ver­braucher und der Stadt­werke Hameln leitete sie ein Beihil­fe­prüf­ver­fahren ein, nachdem sie 2013 ihre Skepsis erklärt und ein formelles Beihil­fe­prüf­ver­fahren eröffnet hatte.

Seit 2014 müssen auch diese sog. Bandlast­kunden wieder Netznut­zungs­ent­gelte zahlen. Es gibt auch für diese für die gleich­mäßige Auslastung der Netze besonders wertvollen Kunden nur noch eine relative Entlastung. Wie die Kommission heute verkündet hat, ist diese Regelung beihil­fe­konform, also zulässig. Das ist erfreulich, denn ansonsten wären viele Unter­nehmen in Deutschland gar nicht mehr wettbe­werbs­fähig, weil die Kosten für Strom hier viel höher sind als in manchen anderen Ländern. Dies belastet zwar uns alle, aber Unter­nehmen, die so viel Strom verbrauchen wie eine ganze Großstadt, müssten die EU verlassen, wenn sie genauso viel zahlen müssten wie ein Haushaltskunde.

Doch wie erwartet gilt dieser Segen der KOM nicht für die komplette Befreiung, wie die KOM heute hat verlaut­baren lassen. Für 2012 und 2013 muss die Bundes­re­gierung deswegen nun Netzent­gelte zurück­fordern. Praktisch werden voraus­sichtlich die Bescheide teilweise nach § 48 VwVfG zurück­ge­nommen, so dass die Netzbe­treiber von den betrof­fenen Indus­trie­kunden Gelder nachfordern müssen. Doch wie hoch wird diese Teilrück­nahme ausfallen? Die KOM spricht davon, dass nur die tatsächlich eintre­tende Entlastung der Netze an den Kunden weiter­ge­reicht werden darf. Dies spricht – gerade nach der Geneh­migung der heutigen Regelung in § 19 Abs. 2 StromNEV – für eine Anwendung der heutigen Regelungen auch für die früheren Jahre. Es bleibt abzuwarten und notfalls per Wider­spruch gegen die Rücknah­me­be­scheide zu überprüfen, wie die Bundes­netz­agentur mit dieser Verpflichtung umgeht.

2018-05-29T08:34:56+02:0028. Mai 2018|Industrie, Strom|

Indivi­duelle Netzent­gelte: BNetzA veröf­fent­licht neue Formulare

Meinen Studenten an der Uni Bielefeld erkläre ich die indivi­du­ellen Netzent­gelte mit meiner imagi­nären Flugge­sell­schaft, der Air Vollmer. Diese trans­por­tiert Passa­giere von A‑Stadt nach B‑City. Norma­ler­weise zahlen alle Passa­giere 200 EUR pro Strecke. Aber manche Passa­giere verpflichten sich vertraglich, ausschließlich morgens um drei zu fliegen, wenn sonst keiner reist. Oder sie fliegen jeden Tag verlässlich morgens und abends. Dass es diese Passa­giere gibt, ist für die anderen Reisenden ein Riesen­vorteil. Denn die auf mein Flugzeug, meine Zentrale und meinen Hangar pro Strecke entfal­lenden Kosten sinken natürlich, wenn die Infra­struktur gleich­mä­ßiger genutzt wird. Und außerdem kann ich viel besser planen, wenn ich von einer gewissen Grund­aus­lastung ausgehen kann, was meine relativen Kosten gleich­falls senkt. Wären diese Passa­giere nicht, meine anderen Fluggäste müssten mindestens 220 EUR zahlen, weil meine Fixkosten sich nicht so gut verteilen würden. Deswegen kostet ein Flug nachts um drei nur 120 EUR und für meine Dauer­kunden gibt es einen Rabatt.

Reist“ Strom durch die Strom­netze ist dieser Effekt sogar noch größer. Denn mein Flugzeug könnte ja auch einfach am Boden bleiben. Strom­netze aller­dings müssen eine immer gleich­blei­bende Spannung aufweisen, ansonsten bricht das Netz zusammen und der Strom fällt aus. Derjenige, der zu Zeiten Strom entnimmt, wenn nur wenige Strom beziehen, ist also für das Stromnetz sogar noch wertvoller als mein Flugpas­sagier morgens um drei. Und und weil für einen sicheren Netzbe­trieb immer eine Mindest­anzahl an Regel­kraft­werken Strom liefern muss, ist der sog. “Bandlast­kunde”,  der rund um die Uhr dafür sorgt, dass dieser Strom auch abgenommen wird, ebenfalls noch wichtiger für den Netzbe­treiber als mein imagi­närer täglicher Flugpas­sagier. Unter diese Kategorie fallen vor allem manche Indus­trien, die für ihre Prozesse Strom als Betriebs­mittel brauchen, etwa Alumi­ni­um­hütten oder Chlorelektrolysen.

Diesen Beitrag für die System­sta­bi­lität durch besondere Netznutzer erkennt § 19 Abs. 2 Strom­netz­ent­gelt­ver­ordnung (StromNEV) an. Dieser ordnet an, dass sowohl der atypische Bezug als auch der Bandlast­bezug verrin­gerte Netzent­gelte zahlen dürfen. Danach liegt ein atypi­scher Strom­bezug vor, wenn es aufgrund vorlie­gender oder prognos­ti­zierter Verbrauchs­daten oder auf Grund techni­scher oder vertrag­licher Gegeben­heiten offen­sichtlich ist, dass der Höchst­last­beitrag eines Letzt­ver­brau­chers vorher­sehbar erheblich von der zeitgleichen Jahres­höchstlast aller Entnahmen aus dieser Netz- oder Umspann­ebene abweicht. Ein Bandlast­kunde ist dagegen ein Kunde, der mehr als 10 GWh über mindestens 7.000 Stunden im Jahr bezieht. Da ein Jahr 8.760 Stunden hat, ist ein Bandlast­kunde quasi immer am Netz.

Die Details und insbe­sondere die Berechnung des beson­deres Netznut­zungs­ent­gelts hat die Bundes­netz­agentur (BNetzA) geregelt. Diese – genauer gesagt: deren BK 4 – ist für die indivi­du­ellen Netznut­zungs­ent­gelte zuständig. Netzbe­treiber und Letzt­ver­braucher schließen also einen regulären privat­recht­lichen Vertrag, aber die Behörde wacht darüber, dass die Voraus­set­zungen für ein Sonder­entgelt gegeben sind und die Höhe stimmt. Damit gewähr­leistet die BNetzA, dass Energie­wirt­schaft und Industrie nicht zulasten aller anderen Verbraucher besonders niedrige Entgelte vereinbaren.

Auf ihrer Homepage hat die BK 4 umfang­reiche Unter­lagen zum Thema bereit­ge­stellt, unter anderem ein Berech­nungstool für das indivi­duelle Netzentgelt. Hier finden sich auch praktische Handrei­chungen. Hilfreich für die Praxis ist insbe­sondere ein Merkblatt mit allge­meinen Infor­ma­tionen. Die BNetzA hat auch eine Muster­ver­ein­barung für die Abrede zwischen Netzbe­treiber und Letzt­ver­braucher erstellt. Anders als viele glauben, können nicht nur Großun­ter­nehmen über besondere Netzent­gelte nachdenken. Auch mancher Mittel­ständler – zB Bäcke­reien – kann seine Netznutzung so organi­sieren, dass er die Hochlast­zeit­fenster seines Netzbe­treibers in relevantem Maße vermeidet. Diese sind im Internet publi­ziert. Es lohnt sich also in vielen Fällen durchaus, das Bezugs­ver­halten zu durch­leuchten und auf den Netzbe­treiber zuzugehen, dem es im Übrigen nicht freisteht, ob er bei Bestehen der Geneh­mi­gungs­vor­aus­set­zungen ein indivi­du­elles Netzentgelt anbietet oder nicht. Hierauf besteht ein Anspruch des Letztverbrauchers.

Aller­dings ist eine Anzeige nicht rund ums Jahr möglich. Es gilt eine Frist zum 30.09. Wer zu spät oder mit unvoll­stän­digen Angaben kommt, muss ein Jahr warten. Für viele Unter­nehmen, die sehr, sehr viel Strom beziehen, wäre das ein Desaster: Ihr Strom würde sich so verteuern, dass sie in Deutschland nicht weiter­pro­du­zieren könnten.

Formulare für die Anzeigen für beide Formen der indivi­du­ellen Netznutzung gibt es ebenfalls auf der Seite der BK 4 der BNetzA. Soeben hat die Behörde die aktuellen Anzei­ge­for­mulare für das Jahr 2018 bereit­ge­stellt. Für Bandlast­kunden finden Sie sie hier. Für die Fälle der atypi­schen Netznutzung gilt dieses Anzei­ge­for­mular.

2018-03-17T17:35:44+01:0016. März 2018|Strom|