Wird der deutsche Ausstieg aus der Atomkraft länger dauern als ihre Nutzung? Bisweilen könnte man auf den Gedanken kommen. Denn am heutigen 12. November 2020 hat das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) dem Budnes­ge­setz­geber erneut Hausauf­gaben aufge­geben: Er muss ein Gesetz erlassen, das die Betreiber von Atomkraft­werken für die ihnen entgan­genen Reststrom­mengen ausrei­chend entschädigt.

Was ist passiert? 1998 gab es einen Regie­rungs­wechsel. Rot-Grün hatte versprochen, aus der Kernkraft auszu­steigen und nahm deswegen Kontakt zu den Betreibern von Atomkraft­werken auf. 2001 wurde ein Vertrag geschlossen, in dem für alle Atomkraft­werke eine Restmenge Strom vereinbart wurde, die noch produ­ziert werden durfte. 2002 wurde dieser Kompromiss in Geset­zesform gegossen.

Als die erste Regierung Merkel ans Ruder kam, drehte sich der Wind. Mit der 11. AtG-Novelle wurde 2009 zwar nicht der ganze Ausstieg in Frage gestellt, aber die Reststom­mengen drastisch erhöht. Die Betreiber sollten durch­schnittlich 12 Jahre länger mit ihren Anlagen Geld verdienen. Abgeschriebene, also voll finan­zierte, Anlagen sind Gold wert: Die Novelle war Milli­arden wert.

2011 jedoch wollte die Regierung von dieser Änderung nichts mehr wissen: Nach dem Atomunfall in Fukushima beschloss der Bundes­ge­setz­geber den Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg: Die 13. AtG-Novelle strich die Zusatz­mengen, die man den Betreibern in der 11. AtG-Novelle versprochen hatte. Die wollten das viele Geld nicht kampflos aufgeben: Am 6. Dezember 2016 erklärte das BVerfG die 13. AtG-Novelle zwar für zum größten Teil verfas­sungs­konform, inklusive der Strei­chung der Reststrom­mengen. Aber die Entschä­di­gungs­re­ge­lungen für die gestri­chenen Reststrom­mengen von Vattenfall und RWE waren dem BVerfG zu dünn, wie sich aus dem 7. Leitsatz der Entscheidung ergibt (1 BvR 2821/11,1 BvR 321/12,1 BvR 1456/12). Der Bundes­ge­setz­geber sollte nachbessern, und zwar bis zum 30. Juni 2018 (Rdnr. 399).

Der Bundes­ge­setz­geber wurde auch aktiv: Mit der 16. AtG-Novelle schuf der Gesetz­geber neue Regelungen, die §§ 7f und 7g AtG. Der Ausgleich in Geld wurde hierin nicht bedin­gungslos gewährt, sondern nur, wenn die Betreiber von Krümmel und Bruns­büttel sowie Mülheim-Kärlich sich um eine Übertragung der Reststrom­mengen bemüht hat.

Wenn der Staat Privaten Geld zahlen will, kann das eine Beihilfe darstellen, die in Brüssel notifi­ziert werden muss. Ein Notifi­ka­ti­ons­ver­fahren wurde aber nicht durch­laufen, statt dessen wurde informell die Auskunft eingeholt, ein solches sei nicht nötig.

Vattenfall zog vor Gericht und setzte sich in mehrfacher Hinsicht durch:

Das BVerfG sah den gesetz­ge­be­ri­schen Auftrag nicht als erfüllt an, bis 2018 eine Neure­gelung zu schaffen. Die 16. AtG-Novelle sei mangels Notifi­zierung nicht in Kraft getreten. Nach Art. 3 der Novelle sollte das Gesetz in Kraft treten, sobald die EU-Kommission notifi­ziert oder verbindlich erklärt, dass nicht notifi­ziert werden muss. Die infor­melle Auskunft der KOM sei aber keine solche verbind­liche Erklärung, weil schiere Mittei­lungen nicht verbindlich sind. Zu deutsch: Es hätte ein formeller Beschluss der KOM ergehen sollen. Der Bund hat also nicht geliefert und muss nochmal aktiv werden.

Das BVerfG führt weiter aus, dass die 16. AtG-Novelle auch den Auftrag, eine ausrei­chende Entschä­di­gungs­re­gelung zu schaffen, nicht hinrei­chend umsetzt. Die Oblie­genheit, sich um die „Übertragung von nicht mehr verstrom­baren Elektri­zi­täts­mengen an Konzerne mit überschie­ßenden Verstro­mungs­ka­pa­zi­täten“ zu bemühen, geht über das deutlich hinaus, was der Gesetz­geber verlangen darf. Es fehlt ein nachvoll­zie­bares Verfahren zum Nachweis, die Aussichten auf Entschä­di­gungen seien völlig ungewiss.

Der Gesetz­geber muss nun also noch einmal nachbessern, sowohl formell als auch materiell. Das lange Ende der Kernenergie in Deutschland geht also weiter (Miriam Vollmer).