Kammer­ge­richt legt 3‑Jahres-Wider­spruchs­lösung dem EuGH vor

Sind Preis­an­pas­sungen des Versorgers in Strom‑, Gas- oder Wärme­lie­fe­rungs­ver­trägen unwirksam, hat der Kunde 3 Jahre Zeit den entspre­chenden Verbrauchs­ab­rech­nungen zu wider­sprechen, andern­falls gelten die (eigentlich unzuläs­sigen) Preis­an­pas­sungen als wirksam vereinbart. Das steht in keinem Gesetz sondern wurde vom BGH entwi­ckelt und ist inzwi­schen ständige Rechtsprechung.

Aber ist das überhaupt zulässig? Das Kammer­ge­richt hat da gewisse Zweifel und hat in einem Verfahren daher einen sog. Vorla­ge­be­schluss an den EuGH erlassen (KG Berlin, Beschluss vom 10.12.2024; Az. 9 U 1087/20).

Ein Vorla­ge­be­schluss an den Europäi­schen Gerichtshof (EuGH) ist eine richter­liche Entscheidung eines natio­nalen Gerichts, in der dem EuGH eine Frage zur Auslegung oder Gültigkeit des Unions­rechts  zur Vorab­ent­scheidung vorlegt wird. Dies geschieht immer dann, wenn das nationale Gericht der Meinung ist, dass diese Frage für die Entscheidung des vor ihm anhän­gigen Rechts­streits relevant ist und die Auslegung des Unions­rechts durch den EuGH erfor­derlich ist.

Das Kammer­ge­richt stellt damit die bisherige Praxis der deutschen Recht­spre­chung zur §-Jahres­lösung auf den Prüfstand und es besteht die Möglichkeit, dass der EuGH dies als unions­rechts­widrig ablehnt. Folge einer solchen Entscheidung kann entweder sein, dass dem Kunden höhere Rückfor­de­rungs­an­sprüche zustehen, da dann auch Preis­an­pas­sungen betroffen wären, denen der Kunde nicht wider­sprochen hat. Anderer­seits kommt nach Ansicht des Kammer­ge­richts aber auch die Unwirk­samkeit des gesamten Vertrages  mit der Folge einer berei­che­rungs­recht­lichen Rückab­wicklung in Betracht.

(Christian Dümke)

2025-05-09T19:58:56+02:009. Mai 2025|Allgemein|

StVO-Reform und VG Berlin: Doppelter Rückenwind für Kiezpoller

Aktuell gibt es aus Berlin starken recht­lichen Rückenwind für die dort sogenannten „Kiezblocks“, auch Super­blocks (in Barcelona: „superilles“) genannt. Zum einen sind das zwei Gerichts­ent­schei­dungen zu Pollern im Reuterkiez und in der August­straße, zum anderen die Reform der Straßen­ver­kehrs­ordnung, die noch bessere Möglich­keiten bietet, und in den Gerichts­ent­schei­dungen noch nicht richtig berück­sichtigt werden konnte.

Straße in Toronto, Kanada, mit Pollern und blauen Betonpflanzelementen.

Modal­filter in Toronto: Keine Probleme mit der StVO (Foto: Olaf Dilling).

Die Gerichts­ent­schei­dungen zeigen, dass Sperren für den Durch­gangs­verkehr je nach örtlichen Gegeben­heiten, Unfall­häu­figkeit und beglei­tenden Anord­nungen bereits nach „altem“ Straßen­ver­kehrs­recht möglich waren. Das soll hier nur kurz angerissen werden:

  • In der ersten Entscheidung zum Reuterkiez ging es – ähnlich wie in Barcelona – um ein System von Einbahn­straßen, die an bestimmten Kreuzungen mit sogenannten Modal­filtern ausge­stattet sind. Das sind Poller­reihen, die nur Fahrrad- und Fußverkehr ermög­lichen, aber für Kfz unpas­sierbar sind.
    Grund­sätzlich gilt im Straßen­ver­kehrs­recht für Verbote und Beschrän­kungen des fließenden Verkehrs das Erfor­dernis einer quali­fi­zierte Gefah­renlage gemäß § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO. Das heißt, dass die Wahrschein­lichkeit des Schadens­ein­tritts erheblich über dem Durch­schnitt (typischer Straßen) liegen muss.
    Eine Ausnahme gilt gemäß § 45 Abs. 1b Nr. 5 StVO für ein Verkehrs­konzept der Gemeinde zur Unter­stützung der städte­bau­lichen Entwicklung. Nach Auffassung des Bezirks lag ein solches Verkehrs­konzept vor. Das Konzept muss aber tatsächlich von der Gemeinde beschlossen worden sein (nicht auf unselb­stän­diger Bezirks­ebene, sondern in Berlin auf Ebene des Senats). Es muss außerdem so konkret sein, dass es von der Straßen­ver­kehrs­be­hörde ohne Zwischen­schritte umgesetzt werden kann.
    Weil beides aus Sicht des Gerichts nicht zutraf, hat es die Planungen des Bezirks nicht als Verkehrs­konzept nach § 45 Abs. 1b Nr. 5 StVO zur Unter­stützung einer geord­neten städte­bau­lichen Entwicklung anerkannt. Das hatte zur Folge, dass die Anfor­de­rungen an die in den Straßen vorlie­gende Gefahr gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 9 Satz 3 StVO erhöht waren.
    Aber selbst diese quali­fi­zierte Gefah­renlage lag nach Auffassung des Gerichts vor: Wegen der Verkehrs­zahlen und der Zusam­men­setzung des Verkehrs bestand eine quali­fi­zierte Gefahr, die zu häufigen Unfällen geführt hat. Daher hat das Gericht in einem Eilbe­schluss den vorläu­figen Rechts­schutz der Kläger gegen die Poller zurückgewiesen.
    D.h. der Fall Reuterkiez zeigt, dass es bei entspre­chender Verkehrs­dichte und Unfall­wahr­schein­lichkeit durchaus möglich ist, eine Modal­sperre aufgrund einer quali­fi­zierten Gefahr gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 9 Satz 3 StVO ‑dem straßen­ver­kehrs­recht­lichen Normalfall – zu errichten.
  • In der zweiten Entscheidung, einem Urteil des VG Berlin, sollte der Modal­filter dazu dienen, eine Fahrrad­straße in der Tuchol­sky­straße „flankierend“ zu begleiten. Da für die Einrichtung einer Fahrrad­straße gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 9 Satz 4 Nr. 2 StVO eine Ausnahme vom Erfor­dernis der quali­fi­zierten Gefahr gilt, war – so wie schon in der Eilent­scheidung des VG Berlin zum selben Fall – nur eine einfache Gefahr nachzuweisen.
    D.h. Ausnah­me­re­ge­lungen wie städte­bau­liche Verkehrs­kon­zepte und Fahrrad­straßen erleichtern es unter erleich­terten Bedin­gungen, Modal­sperren einzu­richten, die der Verkehrs­si­cherheit und der Erleich­terung des Fahrrad- und Fußver­kehrs dienen. 

Die Verzahnung von nachhal­tiger Stadt­planung und konkreter Regelung des Verkehrs ist seit der letzten Reform der StVO 2024 noch verbessert worden. Entscheidend ist insofern, dass inzwi­schen die Bereit­stellung von angemes­senen Flächen für den Fahrrad- und Fußverkehr unter erleich­terten Bedin­gungen möglich ist. Hier dazu einige Stichpunkte:

  • Zentral ist, dass durch die Reform die Einrichtung einer Sperre nicht mehr auf einer Gefahr für die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs begründet werden muss, sondern weitere Gründe, Umwelt- und Gesund­heits­schutz und städte­bau­liche Entwicklung zulässig sind,
  • dies setzt in der Regel ein Gesamt­konzept (das aber auch nur für bestimmte Verkehrs­arten oder ein Stadt­viertel gelten kann) voraus, in dem die zu erwar­tenden Effekte auf das Schutzgut (Umwelt, Gesundheit oder Stadt­ent­wicklung) darge­stellt werden. Typischer­weise muss das Konzept insgesamt zu einer Verkehrs­ver­la­gerung vom Kfz auf den Umwelt­verbund führen, um sich etwa umwelt- oder gesund­heits­chützend auszuwirken.
  • Leich­tigkeit und Sicherheit des Verkehrs spielen weiterhin eine Rolle, aber es geht nur darum, eine Verschlech­terung der Verkehrs­si­cherheit zu verhindern (z.B. durch Ausweich­ver­kehre) und bezüglich der Leich­tigkeit des Verkehrs abzuwägen. Die Leich­tigkeit gilt für alle Verkehrs­arten und wird in Bezug auf das Gesamt­system des Verkehrs betrachtet: Einzelne Verkehrs­arten müssen gegebe­nen­falls zurück­stehen. D.h. Modal­filter beein­träch­tigen zwar zweifellos die Leich­tigkeit des Kfz-Verkehrs, dies kann aber durch die Erleich­terung von Rad- und Fußverkehr sowie die positiven Effekte für Umwelt, Gesundheit oder Stadt­ent­wicklung (Aufent­halts­qua­lität) aufge­wogen werden.

Alles in Allem dürfte es in Zukunft rechtlich sehr viel leichter sein, Kiezblocks zu konzi­pieren und Modal­sperren anzuordnen und das auch mit den Mitteln des Straßen­ver­kehrs­rechts, das gegenüber straßen­recht­lichen Lösungen, insbe­sondere der Teilein­ziehung von Straßen­ab­schnitten, den Vorteil einer größeren Flexi­bi­lität und Bestimmtheit bietet. (Olaf Dilling)

2025-05-06T22:36:18+02:006. Mai 2025|Allgemein, Rechtsprechung, Verkehr|

Achtung: Ab dem 28. Juni 2025 gelten die Pflichten des Barrie­re­frei­heits­stär­kungs­gesetz (BFSG)

Das Barrie­re­frei­heits­stär­kungs­gesetz (BFSG), das bereits im Juli 2021 in Kraft trat, hat das Ziel, die Barrie­re­freiheit in Deutschland deutlich zu verbessern – insbe­sondere im digitalen und techni­schen Bereich. Es setzt die EU-Richt­linie über die Barrie­re­frei­heits­an­for­de­rungen für Produkte und Dienst­leis­tungen um.

Kerninhalt des Gesetzes ist die Verpflichtung von Wirtschafts­ak­teuren (z. B. Herstellern, Händlern und Dienst­leistern), bestimmte Produkte und Dienst­leis­tungen – etwa Geldau­to­maten, E‑Books, Webseiten, Apps oder Telekom­mu­ni­ka­ti­ons­dienste – so zu gestalten, dass sie auch für Menschen mit Behin­de­rungen zugänglich und nutzbar sind.

Das Gesetz gilt ab dem 28. Juni 2025 verbindlich, enthält aber Übergangs­fristen, insbe­sondere für kleinere Unter­nehmen. Es soll dazu beitragen, gleich­be­rech­tigte Teilhabe und Selbst­be­stimmung im Alltag zu fördern. Kleine Unter­nehmen des Dienst­leis­tungs­sektors (unter 10 Mitar­bei­tende und 2 Mio. € Jahres­umsatz) sind teilweise ausgenommen.

Von beson­derer Bedeutung ist dabei für viele Unter­nehmen, insbe­sondere auch in der Energie­wirt­schaft die Pflicht zur barrie­re­freien Ausge­staltung von Websites. Damit eine Website im Sinne des Barrie­re­frei­heits­stär­kungs­ge­setzes (BFSG) als barrie­refrei gilt, muss sie bestimmte technische und gestal­te­rische Anfor­de­rungen erfüllen, die vor allem auf der inter­na­tio­nalen Norm EN 301 549 und den Web Content Acces­si­bility Guide­lines (WCAG) 2.1 basieren. Die wichtigsten Anfor­de­rungen sind:

  • Wahrnehm­barkeit: Inhalte müssen für alle Nutzer*innen erkennbar sein – z. B. durch Textal­ter­na­tiven für Bilder, ausrei­chende Kontraste und gut struk­tu­rierte Überschriften.

  • Bedien­barkeit: Die Website muss vollständig per Tastatur nutzbar sein und darf keine Inhalte enthalten, die Krampf­an­fälle auslösen könnten (z. B. blinkende Elemente).

  • Verständ­lichkeit: Die Inhalte und Navigation sollen klar, einfach und vorher­sehbar sein.

  • Robustheit: Die Website muss mit verschie­denen assis­tiven Techno­logien (z. B. Screen­readern) kompa­tibel sein.

Zusätzlich muss die Website eine Erklärung zur Barrie­re­freiheit enthalten sowie eine Möglichkeit zur Feedback-Abgabe, falls Nutzer auf Barrieren stoßen.

Unter­nehmen, die gegen die Anfor­de­rungen des Barrie­re­frei­heits­stär­kungs­ge­setzes (BFSG) verstoßen, müssen mit verschie­denen recht­lichen Konse­quenzen rechnen:

  1. Durch­setzung durch Markt­über­wa­chung: Behörden der Markt­über­wa­chung (z. B. Bundes­netz­agentur oder Landes­be­hörden) kontrol­lieren die Einhaltung der Vorgaben. Bei Verstößen können sie Maßnahmen wie Rückrufe, Verkaufs­verbote oder Nachbes­se­rungen anordnen.

  2. Bußgelder: Das Gesetz sieht empfind­liche Bußgelder vor – bei schwer­wie­genden oder wieder­holten Verstößen gegen die Barrie­re­frei­heits­an­for­de­rungen können diese bis zu 100.000 Euro betragen (§ 29 BFSG).

  3. Abmah­nungen. Wettbe­werber und auch Verbände und Inter­es­sen­ver­tre­tungen von Menschen mit Behin­de­rungen können rechtlich gegen barrie­re­freie Mängel vorgehen. Es besteht die Gefahr von Abmah­nungen oder gericht­lichen Klagen.

Diese Sanktionen gelten insbe­sondere ab dem 28. Juni 2025, wenn das Gesetz verbindlich in Kraft tritt.

(Christian Dümke)

2025-05-09T19:32:05+02:002. Mai 2025|Allgemein, Gesetzgebung|