StVO-Reform: Rechtsrat ohne Verwal­tungs­vor­schrift, geht das?

Wenn der Gesetz- und Verord­nungs­geber schnell noch in der Legis­la­tur­pe­riode was durch­bringen muss, dann kommt oft die Minis­te­ri­al­ver­waltung nicht hinterher. Mit der Konse­quenz, dass Gesetze und Verord­nungen in Kraft sind, bezüglich deren Auslegung vieles unklar ist. So aktuell etwa bei der StVO-Reform, die mit einiger Verzö­gerung schließlich im Oktober in Kraft getreten war. Das Fehlen konkreter Dienst­an­wei­sungen ist schlecht für die Mehrheit der Rechts­an­wender. Insbe­sondere die untere, operative Verwal­tungs­ebene und die Kommunen steht vor dem Problem, nun mit unbestimmten Rechts­be­griffen hantieren zu müssen. Vorteilhaft weil profi­tabel sind die Rechts­un­si­cher­heiten allen­falls für Rechts­an­wälte, die ihren Rechtsrat verkaufen wollen.

Aber ist das seriös überhaupt möglich? Denn bekanntlich steht in den Verwal­tungs­vor­schriften (VwV) oft mehr und Genaueres drin, als in den Gesetzen und Verord­nungen. Insofern besteht eine gewisse Wahrschein­lichkeit, dass der Rechtsrat durch die Neufassung der VwV bald überholt sein wird.

Nun, hier kommt die Kunst der Auslegung in Spiel. Dabei muss die neue Norm in den vorhan­denen Kontext gesetzt und aus ihm heraus verstanden werden. Genauer gesagt geht die juris­tische Methodik von verschie­denen, unter­schied­lichen Kontexten aus: Es gibt den allge­mein­sprach­lichen Kontext, die sogenannte wörtliche Auslegung, den syste­ma­ti­schen Kontext des Rechts­systems und der Rechts­sprache, den rechts­po­li­ti­schen Kontext und den zweck­be­zo­genen Kontext der Praxis­pro­bleme, die sich stellen.

Ein Beispiel: Seit dem 04. Oktober 2024 können Straßen­ver­kehrs­be­hörden gemäß dem neuen § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO unter erleich­terten Bedin­gungen in weiteren Fällen strecken­be­zogen Geschwin­dig­keits­be­schrän­kungen auf 30 km/h anordnen. Dies geht auch an überört­lichen Bundes‑, Landes- und Kreis­straßen und sonstigen inner­ört­lichen Vorfahrts­straßen. Voraus­setzung dafür ist, dass sich die Geschwin­dig­keits­be­gren­zungen im unmit­tel­baren Bereich von an diesen Straßen gelegenen Fußgän­ger­über­wegen, hochfre­quen­tierten Schul­wegen, Spiel­plätzen und Einrich­tungen für Menschen mit Behin­de­rungen befinden.

Statue von spielenden Kindern im Park

Statue spielender Kinder im Park: Strecken­be­zogen Tempo 30 jetzt auch in unmit­tel­barer Nähe von Spiel­plätzen und hochfre­quen­tierten Schulwegen.

Was in diesen Fällen genau unter „im unmit­tel­baren Bereich“ gemeint ist, darüber sagt die Verordnung nichts. Die bisher nicht aktua­li­sierte VwV sagt nur etwas zu den schon vorher geregelten Ausnahmen von Einrich­tungen, d.h. Kinder­gärten, Kinder­ta­ges­stätten, allge­mein­bil­dende Schulen, Förder­schulen, Alten- und Pflege­heime oder Krankenhäuser:

Die strecken­be­zogene Anordnung ist auf den unmit­tel­baren Bereich der Einrichtung und insgesamt auf höchstens 300 m Länge zu begrenzen. Die beiden Fahrt­rich­tungen müssen dabei nicht gleich behandelt werden.

Da stellt sich die Frage, ob sich diese Regelung auf Fußgän­ger­überwege, hochfre­quen­tierte Schulwege und Spiel­plätze übertragen lassen. Denn die räumliche Ausdehnung aller dieser Fälle ist an sich typischer­weise unter­schiedlich. Fußgän­ger­überwege sind relativ schmal, Einrich­tungen wie Schulen und Kranken­häuser etwas breiter, hochfre­quen­tierte Schulwege können sich dagegen über einen längeren Abschnitt, sagen wir 400 m, entlang einer Straße erstrecken. Um der daraus resul­tie­renden abstrakten Gefahr abzuhelfen, wäre es erfor­derlich, die strecken­be­zogene Anordnung zumindest auf den gesamten Strecken­ab­schnitt, im genannten Beispiel von 400 m, auszu­dehnen. Das wäre dann wohl auch im Kontext des allge­mein­sprach­lichen Wortlauts von „im unmit­tel­baren Bereich“ vertretbar.

Aber es gibt ja auch den rechtlich-syste­ma­ti­schen Kontext: Angesichts der hohen Bedeutung der Schutz­güter des Lebens und der Gesundheit in Art. 2 Abs. 1 GG, die sich auch in der VwV zu § 1 StVO in Form der Vision Zero wider­spiegelt, sollte eine Pufferzone einge­plant werden. Denn bei lebens­naher Betrachtung bremsen Kraft­fahrer nicht immer meter­genau bis zum Verkehrs­schild auf die vorge­schriebene Geschwin­digkeit ab. Zudem halten sich Schüler nicht immer strikt an ihren Schulweg. Der Einfachheit halber und um die Norm übersichtlich zu halten, könnte hier an die bestehende Regelung angeknüpft werden, so dass die Länge des an der Straße verlau­fenden hochfre­quen­tierten Schulwegs um eine bis zu 300 m lange Pufferzone ergänzt wird. Im Beispiel würde eine maximale Gesamt­länge von 700 m resultieren.

Es lässt sich aber nicht ganz ausschließen, dass das Bundes­mi­nis­terium für Infra­struktur und Verkehr sich anders, nämlich im Interesse der Kraft­fahrer und der Leich­tigkeit des Kfz-Verkehrs entscheidet. Die „Bottom line“ wäre dabei zumindest, dass durch den Vollzug der Verordnung ein Mindestmaß an effek­tivem Schutz für „schwä­chere Verkehrs­teil­nehmer wie Kinder und Senioren“ sicher­ge­stellt wird. Dies lässt sich im rechts­po­li­ti­schen Kontext auch aus der Begründung der Verordnung ableiten. Unter Berück­sich­tigung des teleo­lo­gisch-zweck­be­zo­genen Kontexts der Norm sollte dann zumindest der Anhal­teweg (der sich aus Reakti­onsweg und Bremsweg zusam­men­setzt) als Pufferzone auf beiden Seiten zusätzlich mit einkal­ku­liert werden. Bei 50 km/ h wären das dann 40 m, die vor der Gefah­ren­stelle jeweils mindestens zusätzlich einge­räumt werden sollten. Insgesamt wären es im Beispiel also 440 m, gegebe­nen­falls um jeweils 40 m auf beiden Straßen­seiten versetzt. Hierbei werden die Spiel­räume deutlich, wobei mit Gründen für die eine oder die andere Lesart argumen­tiert werden kann.

Fazit: Bei der Rechts­be­ratung auf der Grundlage neuer Gesetze und Verord­nungen ist oft vieles unklar, was die Auslegung angeht. Was Rechts­an­wälte dann bieten können, ist pausible Lesarten zu entwi­ckeln und gut zu begründen. Es lässt sich dann zwar oft nicht mit Sicherheit sagen, wie die Norm konkre­ti­siert wird. Wir können aber Spiel­räume aufzeigen, in denen sich recht­liche Festle­gungen mit hoher Wahrschein­lichkeit bewegen werden. (Olaf Dilling)

2024-11-26T18:31:34+01:0026. November 2024|Verkehr, Verwaltungsrecht|

Tempo 30: Ausnahmen nicht zur Regel?

Verkehrs­po­li­tisch besteht zwischen mehreren Städten und dem Verkehrs­ressort der schei­denden Bundes­re­gierung seit einiger Zeit Streit über Tempo 30. Der Bund hält bislang daran fest, dass die Einführung von Tempo 30-Zonen immer mit einem relativ hohen Begrün­d­ung­aufwand verbunden sein soll und nur punktuell erfolgen soll. Die Städte hätten mehr Möglich­keiten, das Verkehrs­ge­schehen zu gestalten und wollen zumindest die Flicken­tep­piche der 30er-Zonen etwas verein­heit­lichen können. Die Straßen­ver­kehrs­ordnung (StVO) ist da aber weiterhin rigide und verlangt grund­sätzlich auch quali­fi­zierte Gefähr­dungslage. Das selbst da, wo eine Ausnahme naheliegt, weil eine Grund­schule oder ein Altenheim in unmit­tel­barer Nähe ist, ist die Sache nicht gar so einfach.

Auf der Straße hockendes Kind mit Schulranzen und Teddy

Dieses Problem illus­triert eine Gerichts­ent­scheidung aus Düsseldorf von diesem Jahr. Es ging darin um folgende Frage: Darf eine Straße zur Tempo 30-Zone erklärt werden, an der zwar eine Schule liegt, aber lediglich mit einem wenig genutzten Neben­eingang? Wie so oft im öffent­lichen Verkehrs­recht richtet sich die Antwort nach der General­klausel des § 45 Abs. 1 StVO. Grob gesagt ergibt sich aus dieser Norm, dass jede Verkehrs­re­gelung aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs erfolgen muss und dass Beschrän­kungen und Verbote des fließenden Verkehrs ganz besonders recht­fer­ti­gungs­be­dürftig sind. Sie setzen nämlich voraus, dass

auf Grund der beson­deren örtlichen Verhält­nisse eine Gefah­renlage besteht, die das allge­meine Risiko einer Beein­träch­tigung der in den vorste­henden Absätzen genannten Rechts­güter erheblich übersteigt.“

Nun hat die Politik in dem selben Paragraphen eine ganze Reihe Ausnah­me­tat­be­stände geschaffen, in denen diese strengen Anfor­de­rungen nicht gelten sollen. Aller­dings resul­tieren daraus keine besonders großen verkehrs­po­li­ti­schen Gestaltungsspielräume.

Dies zeigt sich in der genannten Entscheidung des VG Düsseldorf. Und zwar sollen die Ausnahmen eng ausgelegt werden (als Ausle­gungs­regel des römischen Recht ’singu­laria non sunt exten­denda‘). Letztlich reduziert das Gericht aber sogar den Wortlaut der Verordnung anhand des Sinn und Zweck der Vorschrift: Nur da wo mit größeren Pulks von Schülern gerechnet werden müsse, die nach dem Unter­richt auf die Straße drängen, sei die spezi­fi­schen Gefahr von Schulen gegeben. Daher würde ein wenig genutzter Neben­eingang nicht reichen, um zu begründen, dass eine Tempo 30-Zone an einer Schule einge­richtet wird. Letztlich wird durch das Gericht dadurch wieder die Regel in die Ausnahme hinein­ge­lesen: Nur da, wo eine erhöhte quali­fi­zierte Gefähr­dungslage besteht, darf die Geschwin­digkeit beschränkt werden.

Die Regel Ausnahmen eng auszu­legen, wurde dabei ziemlich eindeutig übertrieben. Letztlich stellt sich dann die Frage, warum die Ausnahme überhaupt in die Verordnung aufge­nommen wurde. Deutlich wird aber auch, dass § 45 StVO einer dringenden grund­sätz­lichen Reform bedarf, die den Kommunen mehr Freiheiten beim Ausweisen von Tempo 30-Zonen einräumt (Olaf Dilling).

2021-11-22T23:22:40+01:0022. November 2021|Verkehr, Verwaltungsrecht|