Tempo 30: Ausnahmen nicht zur Regel?
Verkehrspolitisch besteht zwischen mehreren Städten und dem Verkehrsressort der scheidenden Bundesregierung seit einiger Zeit Streit über Tempo 30. Der Bund hält bislang daran fest, dass die Einführung von Tempo 30-Zonen immer mit einem relativ hohen Begründungaufwand verbunden sein soll und nur punktuell erfolgen soll. Die Städte hätten mehr Möglichkeiten, das Verkehrsgeschehen zu gestalten und wollen zumindest die Flickenteppiche der 30er-Zonen etwas vereinheitlichen können. Die Straßenverkehrsordnung (StVO) ist da aber weiterhin rigide und verlangt grundsätzlich auch qualifizierte Gefährdungslage. Das selbst da, wo eine Ausnahme naheliegt, weil eine Grundschule oder ein Altenheim in unmittelbarer Nähe ist, ist die Sache nicht gar so einfach.
Dieses Problem illustriert eine Gerichtsentscheidung aus Düsseldorf von diesem Jahr. Es ging darin um folgende Frage: Darf eine Straße zur Tempo 30-Zone erklärt werden, an der zwar eine Schule liegt, aber lediglich mit einem wenig genutzten Nebeneingang? Wie so oft im öffentlichen Verkehrsrecht richtet sich die Antwort nach der Generalklausel des § 45 Abs. 1 StVO. Grob gesagt ergibt sich aus dieser Norm, dass jede Verkehrsregelung aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs erfolgen muss und dass Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs ganz besonders rechtfertigungsbedürftig sind. Sie setzen nämlich voraus, dass
„auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.“
Nun hat die Politik in dem selben Paragraphen eine ganze Reihe Ausnahmetatbestände geschaffen, in denen diese strengen Anforderungen nicht gelten sollen. Allerdings resultieren daraus keine besonders großen verkehrspolitischen Gestaltungsspielräume.
Dies zeigt sich in der genannten Entscheidung des VG Düsseldorf. Und zwar sollen die Ausnahmen eng ausgelegt werden (als Auslegungsregel des römischen Recht ’singularia non sunt extendenda‘). Letztlich reduziert das Gericht aber sogar den Wortlaut der Verordnung anhand des Sinn und Zweck der Vorschrift: Nur da wo mit größeren Pulks von Schülern gerechnet werden müsse, die nach dem Unterricht auf die Straße drängen, sei die spezifischen Gefahr von Schulen gegeben. Daher würde ein wenig genutzter Nebeneingang nicht reichen, um zu begründen, dass eine Tempo 30-Zone an einer Schule eingerichtet wird. Letztlich wird durch das Gericht dadurch wieder die Regel in die Ausnahme hineingelesen: Nur da, wo eine erhöhte qualifizierte Gefährdungslage besteht, darf die Geschwindigkeit beschränkt werden.
Die Regel Ausnahmen eng auszulegen, wurde dabei ziemlich eindeutig übertrieben. Letztlich stellt sich dann die Frage, warum die Ausnahme überhaupt in die Verordnung aufgenommen wurde. Deutlich wird aber auch, dass § 45 StVO einer dringenden grundsätzlichen Reform bedarf, die den Kommunen mehr Freiheiten beim Ausweisen von Tempo 30-Zonen einräumt (Olaf Dilling).