Rüge überlanger Verfahren in der Pandemie

Bekanntlich mahlen Justizias Mühlen langsam. Und Richter genießen in Deutschland viele Freiheiten, was ihnen Unabhän­gigkeit sichert, aber die Geduld von Klägern manchmal schwer auf die Probe stellt. Daher hat 2010 der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) in Straßburg auf eine Indivi­du­al­be­schwerde hin festge­stellt, dass die überlange Verfah­rens­dauer vor deutschen Gerichten ein struk­tu­relles Problem darstellt.

Er forderte die Bundes­re­publik auf, einen wirksamen Rechts­schutz gegen solche langen Gerichts­ver­fahren einzu­führen. Daher wurde 2011 im § 198 Gerichts­ver­fas­sungs­gesetz (GVG) ein Entschä­di­gungs­an­spruch einge­führt. Dieser Anspruch sieht vor, dass Verfah­rens­be­tei­ligte, die aufgrund eines unange­messen langen Gerichts­ver­fahrens einen Nachteil erleiden, angemessen entschädigt werden. Bei Schäden, die nicht Vermö­gens­schäden sind, beträgt der Ausgleich in der Regel 1.200 Euro pro Jahr der Verzögerung.

Voraus­setzung für den Entschä­di­gungs­an­spruch ist eine Verzö­ge­rungsrüge gemäß § 198 Abs. 3 GVG, die gegebe­nen­falls wiederholt werden und unter Umständen sachdien­liche Hinweise für Möglich­keiten der Verfah­rens­be­schleu­nigung beinhalten muss. Die Klage vor dem Entschä­di­gungs­ge­richt kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzö­ge­rungsrüge erhoben werden.

In letzter Zeit kommt es oft zu Verzö­gerung von Verfahren aufgrund pande­mie­be­dingter Umstände. Hier hat die Rechts­spre­chung deutlich gemacht, dass Verzö­ge­rungs­gründe, die nicht dem staat­lichen Verant­wor­tungs­be­reich zuzuordnen sind, keinen Entschä­di­gungs­an­spruch begründen. In dem vom Bundes­fi­nanzhof letztes Jahr entschie­denen Fall war die Verzö­gerung beim Sitzungs­be­trieb auf mehrerer Krank­heits­fälle und auf die Schutz­maß­nahmen zurück­zu­führen. Daher hatte das Gericht die Unange­mes­senheit der gericht­lichen Verfah­rens­dauer i.S. des § 198 Abs. 1 GVG verneint.

Aller­dings muss zwischen solchen pande­mie­be­dingten Verzö­ge­rungen unter­schieden werden, auf die sich der Staat einstellen kann und solchen, die tatsächlich unvor­her­sehbar waren. Dies zeigt eine neuere Entscheidung des OVG Münster: Demnach handelt es sich bei der Überlastung der Verwal­tungs­ge­richts­barkeit oder des konkreten Gerichts um struk­tu­relle Mängel, die sich der Staat zurechnen lassen muss. Er kann sie entweder durch Bereit­stellung ausrei­chender perso­neller und sachlicher Mittel besei­tigen oder macht sich wegen überlanger Verfah­rens­dauer entschä­di­gungs­pflichtig (Olaf Dilling).

 

2022-09-20T11:08:55+02:0020. September 2022|Rechtsprechung, Verwaltungsrecht|

BGH: Fax bleibt Goldstandard

Der Bundes­ge­richtshof (BGH) hat diese Woche einen Beschluss zur Frist­wahrung veröf­fent­licht. Eine Anwältin hatte bei der Übermittlung der Berufungs­be­gründung Probleme, da das Faxgerät des Gerichts über mehrere Tage defekt war und der Justiz­wacht­meister des Berufungs­ge­richts kein anderes, funkti­ons­fä­higes Gerät nennen konnte. Schließlich hat die Anwältin das Schreiben per E‑Mail mit einge­scannter Unter­schrift ans Gericht geschickt, das aber dort erst am Tag nach Frist­ablauf ausge­druckt wurde.

Der Wieder­ein­set­zungs­antrag beim Berufungs­ge­richt blieb zunächst ohne Erfolg. Denn die Prozess­be­voll­mäch­tigte habe die Frist nicht ohne ihr Verschulden versäumt. Schließlich hätte sie die zumutbare Möglichkeit gehabt, den Schriftsatz auch per beson­derem elektro­ni­schen Postfach (beA) an das Gericht zu senden. Auch die E‑Mail habe zur Frist­wahrung nicht gereicht. Denn für die Recht­zei­tigkeit käme es auf den Ausdruck an. Denn nur der Ausdruck genügt dem Schrift­form­erfor­dernis. Wie soll ein gewöhn­licher Richter von etwas „im Computer“ auch Kenntnis erlangen, das nicht von der Geschäfts­stelle ordnungs­gemäß zu Papier gebracht wurde?

Dem wider­sprach nun der BGH mit der Begründung, dass die Zusendung per beA keine zumutbare Maßnahme zur Frist­wahrung sei. Zwar seien Rechts­an­wälte zur passiven Nutzung des beA verpflichtet. Nach § 130a Abs. 4 Nr. 2 Zivil­pro­zess­ordnung (ZPO) sei dieser Übermitt­lungsweg auch als ausrei­chend und sicher anerkannt. Aller­dings kommt der BGH dennoch zu dem Schluss, dass Anwälte, die das beA bisher nicht genutzt hätten, sich beim Scheitern eines Zustell­ver­suchs per Fax nicht innerhalb kürzester Zeit in die aktive Benutzung des beA einar­beiten müssten. Dies gelte jeden­falls bis zur Einführung einer aktiven Benut­zungs­pflicht. Mit anderen Worten gehört das besondere elektro­nische Anwalts­postfach trotz Bereit­stellung und passiver Benut­zungs­pflicht dieser in der Anschaffung teuren Infra­struktur weiterhin nicht zu den selbst­ver­ständ­lichen Kommu­ni­ka­ti­ons­wegen für Anwälte.

Inter­essant wäre der umgekehrte Fall: Ob ein junger Anwalt sich darauf berufen könnte, dass er mit der Benutzung des beA vertraut sei, nicht aber mit der Benutzung eines Fax-Gerätes? Wir wagen es zu bezweifeln. Denn weiterhin ist in deutschen Amtsstuben und Geschäfts­stellen das Fax der Goldstandard (Olaf Dilling).

2021-01-26T12:19:42+01:0026. Januar 2021|Digitales|