Inves­ti­ti­ons­schieds­ver­fahren als Hemmnis der Energiewende

2011 hat die Bundes­re­gierung nach der Nukle­ar­ka­ta­strophe von Fukushima den endgül­tigen Atomaus­stieg beschlossen. Dieser hatte weitrei­chende Folgen. Neben der Entscheidung, bis 2022 das letzte Atomkraftwerk abzuschalten, zog diese umwelt­po­li­tisch begrü­ßens­werte Entscheidung auch einige Gerichts­ver­fahren nach sich. U.a. hatte das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt 2016 über eine Verfas­sungs­be­schwerde von E.ON, RWE und Vattenfall zu entscheiden. In seinem Urteil erklärte das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt den Atomaus­stieg grund­sätzlich für verfas­sungs­konform, bemän­gelte jedoch das Fehlen einiger Schadensersatzregelungen.

Das juris­tische Nachspiel der politi­schen Entscheidung hatte damit aber noch nicht sein Ende. Vattenfall, ein schwe­di­scher Staats­konzern, initi­ierte parallel zu der Verfas­sungs­be­schwerde noch ein Schieds­ge­richts­ver­fahren auf Basis des Energie­charta-Vertrages und verlangt in dem immer noch anhän­gigen Verfahren von der Bundes­re­gierung 4,7 Milli­arden Euro Schadens­ersatz. Bei dem Energie­charta-Vertrag handelt es sich um ein multi­la­te­rales völker­recht­liches Abkommen mit 53 Mitgliedern. Vertrags­par­teien sind neben allen EU-Mitglied­staaten (mit Ausnahme von Italien), die EU sowie mehrere Drittstaaten.

Das von Vattenfall angestrengte Schieds­ver­fahren findet größten­teils unter Ausschluss der Öffent­lichkeit statt. Lediglich die Eingangs- und Schluss­plä­doyers der ersten Verhandlung sind als Video im Internet veröf­fent­licht. Die Verfah­rens­do­ku­mente sind hingegen nicht zugänglich. Lediglich den Abgeord­neten des Bundes­tages wurden Infor­ma­tionen zum Verfah­rens­stand in der Geheim­schutz­stelle des Bundes­tages zur Verfügung gestellt. Es ist daher auch nicht bekannt, auf welche Vorschriften des Energie­charta-Vertrages sich Vattenfall stützt.

Unabhängig von der Proble­matik, dass solche Schieds­ver­fahren – im Gegensatz zu inner­staat­lichen Gerichts­ver­fahren – meist unter Ausschluss der Öffent­lichkeit statt­finden, stellt sich die Frage, ob es unions­rechtlich überhaupt zulässig ist, dass ein europäi­scher Investor einen anderen EU-Mitglied­staat außerhalb des eigentlich vorge­se­henen europäi­schen Rechts­rahmens auf Schadens­ersatz verklagt. Die Europäische Union bildet nämlich nicht nur – wie zu Beginn ihrer Existenz – eine Wirtschafts‑, sondern auch eine Rechts- und Werte­union. Wenn also ein vorran­giges europäi­sches Rechts­system besteht, ein sog. Europäi­scher Gerichts­verbund, erscheint es durchaus fraglich, wenn EU-Mitglied­staaten ihre Rechts­strei­tig­keiten außerhalb dieses Rechts­rahmens austragen.

Im März 2018 hat sich der Europäische Gerichtshof in der Rechts­sache Achmea mit der Frage der Zuläs­sigkeit inner­eu­ro­päi­scher Schieds­ge­richts­ver­fahren ausein­an­der­ge­setzt und festge­stellt, dass eine völker­recht­liche Verein­barung zweier Mitglied­staaten, ein Schieds­ge­richt zu errichten, welches unter Umständen auch Unions­recht anwendet und auslegt, gegen die Autonomie des Unions­rechts verstößt. Denn ein solches Schieds­ge­richt sei nicht nach Art. 267 AEUV vorla­ge­be­rechtigt, sodass die Gefahr einer unein­heit­lichen Auslegung des Unions­rechts bestünde. Wenn ein solches Schieds­ge­richt nicht nach Art. 267 AEUV dem ausschließlich für die Auslegung von Unions­recht zustän­digen Europäi­schen Gerichthof eine Frage zur Auslegung des Unions­rechts vorlegen könne, bestünde nämlich die Möglichkeit, dass dieses Gericht die entspre­chende unions­recht­liche Vorschrift anders auslege, als sie der Europäische Gerichtshof auslegt. Hierin liegt eine Verletzung der Autonomie des Unions­rechts. Denn die Autonomie des Unions­rechts, welche sich daraus begründet, dass das Unions­recht eine eigen­ständige Rechts­ordnung ist, die in allen Mitglied­staaten unmit­telbar gilt und vor natio­nalem Recht Anwendung findet, wird gerade dadurch gewähr­leistet, dass das Unions­recht einheitlich in allen Mitglied­staaten Anwendung findet. Zudem wird auch der nach Art. 4 Abs. 3 EUV geltende Grundsatz der loyalen Zusam­men­arbeit dadurch beein­trächtigt, dass diese Strei­tigkeit den natio­nalen Gerichten entzogen werden.

Nun handelt es sich zwar im Gegensatz zu dem bilate­ralen Inves­ti­ti­ons­schutz­vertrag zwischen der Slowakei und den Nieder­landen in der Rechts­sache Achmea bei dem Energie­charta-Vertrag um einen multi­la­te­ralen Vertrag, sodass man annehmen könnte, dass die Grund­sätze aus der Achmea-Entscheidung nicht übertragbar sind.

Aller­dings dürften auf Schieds­ver­fahren auf der Grundlage des Energie­charta-Vertrages zwischen einem EU-Investor und einem anderen EU-Mitglied­staat die gleichen Erwägungen zutreffen. Denn auch im Rahmen solcher Strei­tig­keiten besteht die Möglichkeit, dass Unions­recht von dem Schieds­ge­richt angewandt und ausgelegt wird. Zudem ist auch ein Schieds­ge­richt nach dem Energie­charta-Vertrag kein nach Art. 267 AEUV vorla­ge­be­rech­tigtes Gericht. Damit besteht auch hier die Gefahr einer unein­heit­lichen Anwendung des Unions­rechts und damit ein Verstoß gegen die Autonomie des Unions­rechts. Auch der zwischen den Mitglied­staaten geltende Grundsatz der loyalen Zusam­men­arbeit wird dadurch beein­trächtigt, dass diese Strei­tig­keiten von natio­nalen Gerichten auf Schieds­ge­richte ausge­lagert werden.

Aller­dings scheint beim Energie­charta-Vertrag noch Art. 351 AEUV zu berück­sich­tigen zu sein. Hiernach finden völker­recht­liche Verträge zwischen den Mitglied­staaten und Dritt­staaten, die vor Beitritt zu der Europäi­schen Union geschlossen wurden (Altver­träge), auch bei Verstoß gegen Unions­recht ausnahms­weise vorerst weiterhin Anwendung. Ob Art. 351 AEUV tatsächlich greift, ist jedoch nicht ganz unpro­ble­ma­tisch. Denn auf inner­eu­ro­päische völker­recht­liche Verträge findet Art. 351 AEUV gerade keine Anwendung. Art. 351 AEUV ist daher nur dann anwendbar, wenn die Nicht­an­wendung des Energie­charta-Vertrages bei inner­eu­ro­päi­schen Strei­tig­keiten auch Dritt­staaten verletzt. Ein weiteres Problem ist, dass der Energie­charta-Vertrag nicht für alle Mitglied­staaten ein Altvertrag ist. Fraglich erscheint daher, ob Art. 351 AEUV nur für einen Teil der Mitglied­staaten gilt oder trotzdem einheitlich für alle. Ferner kann man sich im Hinblick auf die Kadi-I-Entscheidung des EuGH fragen, ob Art. 351 AEUV überhaupt bei einer Verletzung der Autonomie des Unions­rechts anwendbar ist. Denn der EuGH hatte in der Entscheidung festge­stellt, dass Art. 351 AEUV „keines­falls […] die Grundätze in Frage [stellen könne], die zu den Grund­lagen der Gemein­schafts­ordnung selbst gehören“. Hierzu zählt insbe­sondere der Schutz der Grundrechte.

Jeden­falls begründet Art. 351 Abs. 2 AEUV eine Pflicht der Mitglied­staaten, alle geeig­neten Maßnahmen zu treffen, um die Unions­rechts­ver­letzung abzustellen. Dies stellt eine besondere Ausprägung der in Art. 4 Abs. 3 EUV veran­kerten Loyali­täts­pflicht der Mitglied­staaten dar. Selbst wenn Art. 351 AEUV in Bezug auf das Schieds­ver­fahren Vattenfall gegen Deutschland Anwendung finden sollte, erscheint die Einleitung des Schieds­ver­fahrens seitens Vatten­falls ein Verstoß gegen die Loyali­täts­pflicht Schwedens zu sein. Denn schließlich ist Vattenfall ein schwe­di­scher Staats­konzern. Schweden hätte damit den Unions­verstoß im konkreten Fall dadurch abstellen können, dass es seinen Einfluss auf Vattenfall geltend gemacht hätte und dadurch das vorlie­gende Schieds­ver­fahren verhindert hätte. Hierdurch wäre, wenn auch nicht grund­sätzlich, zumindest im Einzelfall die Autonomie des Unions­rechts geschützt worden.

Inter­na­tionale Schieds­ver­fahren erscheinen damit gerade im inner­eu­ro­päi­schen Raum aufgrund des vorhan­denen Rechts­systems nicht nur als überflüs­siges Relikt, sondern zudem auch als Verstoß gegen die Autonomie des Unions­rechts. Gerade auch im Hinblick auf die mit dem europäi­schen Deal verfolgte europäische Energie­wende erscheinen inter­na­tionale Schieds­ge­richts­ver­fahren zwischen EU-Mitglied­staaten eher als Hemmnis der Energie­wende denn als Instrument der Rechts­si­cherheit. Letzt­endlich gefährden die meist unter Ausschluss der Öffent­lichkeit statt­fin­denden Verfahren die einheit­liche Anwendung des Unions­rechts (Fabius Wittmer).

2020-07-30T16:57:33+02:0030. Juli 2020|Allgemein, Energiepolitik, Umwelt|

Wie kommen die eigentlich darauf? – Warum Karlsruhe über Europa­recht entscheidet

Zum Urteil des BVerfG vom 5.05.2020

2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16

Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) hat am vergan­genen Dienstag über das Anlei­hen­kauf­pro­gramm PSPP der Europäi­schen Zentralbank (EZB) entschieden und dieses für – zumindest vorüber­gehend – unver­einbar mit dem Grund­gesetz erklärt. Genauer gesagt hat das BVerfG festge­stellt, dass Bundestag und Bundes­re­gierung gegen das Demokra­tie­prinzip verstoßen, da sie es unter­lassen habe, geeignete Maßnahmen gegen das PSPP der EZB zu ergreifen. Zugleich stellte sich das BVerfG damit erstmalig gegen ein Urteil des Europäi­schen Gerichtshofs (EuGH).Wie aber kommt das BVerfG dazu, überhaupt über ein EU-Programm zu entscheiden?

Tatsächlich ist die Entscheidung des BVerfG durchaus Teil und vorläu­figer Höhepunkt einer seit einigen Jahren andau­ernden Ausein­an­der­setzung zwischen dem BVerfG und dem EuGH. Ursprung dessen war die Aussage des damaligen Präsi­denten der EZB Mario Draghi im Jahre 2012, „to do whatever it takes to preserve the euro.“ Als Reaktion auf die Eurokrise kündigte er an, dass die EZB „innerhalb [ihres] Mandates alles Erfor­der­liche tun werde, um den Euro zu erhalten.“ Hierzu sollten unter bestimmten Voraus­set­zungen in unbegrenzter Höhe Staats­an­leihen ausge­wählter Mitglied­staaten von dem Eurosystem erworben werden können.

Das Eurosystem besteht aus der EZB sowie den natio­nalen Zentral­banken der Mitglied­staaten, welche den Euro als gemeinsame Währung haben.
Die Ankün­digung dieses sog. Outright-Monetary-Programms (OMT-Programm) sollte sodann Gegen­stand einer Verfas­sungs­be­schwerde vor dem BVerfG werden. Die Beschwer­de­führer waren nämlich der Ansicht, dass die Ankün­digung des OMT-Programmes nicht mehr von dem Mandat der EZB, d.h. Währungs­po­litik zu betreiben, gedeckt sei. Zudem würde es gegen das im Unions­recht geltende Verbot der monetären Haushalts­fi­nan­zierung (Art. 123 AEUV) verstoßen. Unter dem Verbot der monetären Haushalts­fi­nan­zierung ist – verein­facht gesagt – das Verbot zu verstehen, dass weder die EZB noch die natio­nalen Zentral­banken den Mitglied­staaten Kredite gewähren dürfen.
Histo­risch bedeutsam an diesem Verfahren war, dass das BVerfG das erste Mal dem EuGH eine Rechts­frage zur vorhe­rigen Entscheidung vorlegte. Das BVerfG versuchte dem EuGH in seinem Vorla­ge­be­schluss zwar mit eindrück­lichen Worten klar zu machen, dass es das OMT-Programm als unions­rechts­widrig ansieht, schloss sich jedoch letzt­endlich dem EuGH an, nachdem dieser das OMT-Programm der EZB für mit dem Unions­recht vereinbar erklärt hatte.

Dem Urteil des BVerfG von vergan­genem Dienstag liegt ein ähnlicher Sachverhalt zu Grunde. Auch hier hatte sich das BVerfG letzt­endlich wieder mit der Frage zu beschäf­tigen, ob und unter welchen Voraus­set­zungen die EZB ein Staats­an­lei­hen­kauf­pro­gramm beschließen darf, ohne dabei gegen Unions­recht zu verstoßen. Diesmal ging es aller­dings nicht um das OMT-Programm, sondern um das sog. Public Sector Asset Purchase Programme (PSPP), im Rahmen dessen das Eurosystem auf Grundlage eines Beschlusses der EZB unter bestimmten Bedin­gungen vor allem Staats­an­leihen aber auch andere Schuld­titel kauft.

Auch in dem jetzigen Verfahren hatte das BVerfG zunächst den EuGH angerufen und um Klärung der unions­recht­lichen Fragen gebeten. So wollte das BVerfG, wie schon im OMT-Verfahren, insb. wissen, ob das Anlei­hen­kauf­pro­gramm der EZB die Kompetenz der EZB überschreite und ob es gegen das Verbot monetärer Haushalts­fi­nan­zierung verstoße. Auch in dem diesem Urteil voraus­ge­gan­genen Vorla­ge­be­schluss machte das BVerfG deutlich, dass es das jetzige PSPP der EZB für unions­rechts­widrig hält.
Der Europäische Gerichtshof kam jedoch wieder zu dem Schluss, dass das Anlei­hen­kauf­pro­gramm der EZB kompe­tenz­gemäß ist und auch nicht gegen das Verbot der monetären Haushalts­fi­nan­zierung verstößt.

Same procedure as last time” konnte man bis hierhin denken. Aller­dings entschied das BVerfG nun entgegen den Ausfüh­rungen des EuGHs, dass das PSPP – zumindest teilweise – „offen­sichtlich“ unions­rechts­widrig und damit auch unver­einbar mit dem Grund­gesetz sei. Bundestag und Bundes­re­gierung hätten es unter­lassen, geeignete Maßnahmen gegen das PSPP zu ergreifen.

1. Prozes­sualer Hinter­grund der Entscheidung

Wie kommt es dazu, dass ein deutsches Verfas­sungs­ge­richt – abwei­chend vom an sich zustän­digen EuGH – über die Unions­recht­mä­ßigkeit von Handlungen europäi­scher Organe im Rahmen einer Verfas­sungs­be­schwerde, die an sich für die Überprüfung von Grund­rechts­ver­let­zungen vorge­sehen ist, entscheidet?

Entspre­chend der Europäi­schen Verträge ist allein der Europäische Gerichtshof für die Auslegung von Unions­recht zuständig (Art. 267 AEUV). So wird gewähr­leistet, dass das Unions­recht in allen Mitglied­staaten einheitlich angewendet wird und letzt­endlich kein Flicken­teppich dadurch entsteht, dass jeder Mitglied­staat das Unions­recht anders inter­pre­tiert. Die Urteile des EuGHs sind daher auch für die natio­nalen Gerichte bindend. Dies erkennt das BVerfG auch grund­sätzlich an und betont daher ausdrücklich den Ausnah­me­cha­rakter der jetzigen Entscheidung.

Wie ist es vor diesem Hinter­grund möglich, dass das BVerfG in seiner PSPP-Entscheidung letzt­endlich doch Unions­recht abwei­chend vom Europäische Gerichtshof auslegt? Das BVerfG bedient sich hier einer beson­deren Konstruktion, die es bereits in seinem Maastricht-Urteil im Jahre 1993 entwi­ckelt hat. Das Unions­recht gilt in Deutschland aufgrund des Zustim­mungs­ge­setzes des Deutschen Bundes­tages zu den Europäi­schen Verträgen. Der Bundestag hat damit der Europäi­schen Union und ihren Organen die in den Europäi­schen Verträgen nieder­ge­legten Kompe­tenzen übertragen und dadurch zugleich ermög­licht, dass das Unions­recht auch in Deutschland ohne weiteres gilt. Dies sei aufgrund des in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG nieder­ge­legten Demokra­tie­prinzips aller­dings nur zulässig, solange die Kompe­tenzen von vornherein festgelegt sind. Der Bundestag als unmit­telbar demokra­tisch legiti­miertes Organ müsse alle wesent­lichen Entschei­dungen selbst treffen und dürfe daher nicht seine Entschei­dungs­be­fug­nisse derart auf die Europäi­schen Organe übertragen, dass diese sich selber weitere Kompe­tenzen geben können. Der Europäi­schen Union und ihrer Organe darf daher keine sog. Kompetenz-Kompetenz zustehen, d.h. die Kompetenz sich eigene Kompe­tenzen zu geben. Agieren die Organe der EU offen­sichtlich außerhalb ihrer Kompe­tenzen, so ist deren Handeln nicht mehr von der ursprüng­lichen Kompe­tenz­über­tragung durch den Bundestag gedeckt und kann daher auch keine inner­staat­liche Wirkung beanspruchen.

Aufgrund dessen behält sich das BVerfG vor, zu prüfen, ob die Organe der Europäi­schen Union die ihr in den Verträgen einge­räumte Befug­nisse offen­sichtlich überschreiten (sog. ultra-vires Kontrolle). Denn dann läge letzt­endlich ein Verstoß gegen das in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG veran­kerte Demokra­tie­prinzip vor. Über diese Konstruktion ist es dem BVerfG, das an sich nur die Verein­barkeit von Rechts­akten mit Verfas­sungs­recht prüfen kann, im Endeffekt möglich, sich auch – als Vorfrage – mit der Auslegung von Unions­recht zu beschäftigen.

Damit dies auch im Rahmen der Verfas­sungs­be­schwerde rügefähig ist, bedient sich das BVerfG einer weiteren Konstruktion. Im Rahmen der Verfas­sungs­be­schwerde sind nämlich nur Grund­rechte oder grund­rechts­gleiche Rechte rügefähig. Beschwer­de­befugt sind die Beschwer­de­führer vorliegend aus dem grund­rechts­gleichen Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Das Wahlrecht umfasst – verein­facht gesagt – auch das Recht, dass der Bundestag noch etwas Wesent­liches zu sagen hat. Daher ist das Wahlrecht auch dann verletzt, wenn der Bundestag der Europäi­schen Union die Kompetenz-Kompetenz übertragen würde bzw. die Organe offen­sichtlich außerhalb ihrer Zustän­dig­keiten handeln.
Auch hinsichtlich des mit der Verfas­sungs­be­schwerde angegrif­fenen Gegen­standes bedarf es einer gewissen Konstruktion. Der Beschluss der EZB über das PSPP kann nämlich nicht unmit­telbar Gegen­stand der Entscheidung des BVerfG sein, da Gegen­stand einer Verfas­sungs­be­schwerde nur Akte der deutschen öffent­lichen Gewalt sein können. Rechtsakte von Organen der Europäi­schen Union sind daher unmit­telbar kein tauglicher Gegen­stand einer Verfas­sungs­be­schwerde. Unmit­tel­barer Gegen­stand der Verfas­sungs­be­schwerde ist vorliegend vielmehr das Unter­lassen von Bundestag und Bundes­re­gierung, geeignete Maßnahmen gegen das PSPP zu ergreifen. Der Beschluss der EZB über das PSPP wird damit – zuläs­si­ger­weise – mittelbar Gegen­stand der Verfassungsbeschwerde.

2. Inhalt der Entscheidung

Aufgrund dieser recht­lichen Konstruk­tionen war es dem BVerfG sodann nur möglich von der Entscheidung des EuGHs abzuweichen, wenn es das Urteil des Gerichtshofs zunächst selbst als offen­sichtlich ultra-vires einstuft. Die Auslegung der Verträge seitens des EuGH müsse dafür „schlech­ter­dings nicht mehr nachvoll­ziehbar[…] und daher objektiv willkürlich“ sein.

Obwohl das BVerfG betont, gegen die Entscheidung des EuGHs erheb­liche Bedenken zu haben, erklärt es die Entscheidung des Gerichtshofs lediglich in einem Punkt für ultra-vires. Dies liegt an dem zuvor skizzierten Prüfungs­maßstab des Verfas­sungs­ge­richts. Denn bloße recht­liche Bedenken reichen nicht aus. Es bedarf einer „schlech­ter­dings nicht mehr nachvoll­zieh­baren“ Auslegung.

Die Frage, ob die EZB durch ihr Staats­an­lei­hen­kauf­pro­gramm PSPP gegen das Verbot monetärer Haushalts­fi­nan­zierung verstößt, also letzt­endlich den Mitglied­staaten hierdurch Kredite gewährt werden, sieht das BVerfG zwar kritisch, lässt aber letzt­endlich die Auslegung des Gerichtshofs gelten und sieht hierin keine offen­sicht­liche Kompe­tenz­über­schreitung des Gerichtshofs.

Lediglich die Entscheidung des EuGHs, dass die EZB im Rahmen ihrer Kompe­tenzen gehandelt habe, sieht das BVerfG bzgl. eines Teilaspekts – nämlich der Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung – als offen­sichtlich ultra-vires.
Nach den Europäi­schen Verträgen ist die EZB nur dazu berechtigt, währungs­po­li­tische Maßnahmen zu ergreifen. Für wirtschafts­po­li­tische Maßnahmen sind weiterhin die Mitglied­staaten zuständig. Die EZB darf lediglich die Wirtschafts­po­litik der Mitglied­staaten unter­stützen. Ob das Kaufen von Staats­an­leihen aufgrund seiner wirtschafts­po­li­ti­schen Effekte noch als Währungs­po­litik angesehen werden kann, ist auch unter Ökonomen äußerst umstritten. Der EuGH gewährt der EZB aufgrund ihrer Unabhän­gigkeit und der darin zum Ausdruck kommenden ökono­mi­schen Expertise daher auch einen weiten Beurtei­lungs­spielraum im Hinblick auf die Quali­fi­zierung der Maßnahme. Letzt­endlich billigte der EuGH somit auch das Anlei­hen­kauf­pro­gramm, da es – entspre­chend der Beurteilung der EZB – primär den Zweck habe, die Infla­ti­onsrate bei ca. 2 % zu halten. Bei der Gewähr­leistung einer stabilen Infla­ti­onsrate handelt es sich, was unstrittig ist, um einen währungs­po­li­ti­schen Zweck.

Im Rahmen der Kompe­tenz­aus­übung ist jedoch nach den Europäi­schen Verträgen (Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 4 EUV) auch die Verhält­nis­mä­ßigkeit zu wahren. D.h. „die Handlungen der Organe [müssen] geeignet [sein], die mit der fraglichen Regelung zuläs­si­ger­weise verfolgten Ziele zu erreichen, und [dürfen] nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Errei­chung dieser Ziele geeignet und erfor­derlich ist.“
Diese Prüfung habe der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil in einer „metho­disch nicht nachvollziehbare[n]“ Art und Weise vorge­nommen, urteilte das BVerfG am vergan­genen Dienstag, sodass das Urteil des Gerichtshofs in diesem Punkt offen­sichtlich ultra-vires sei.

Der Europäische Gerichtshof habe zwar eine Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung vorge­nommen, aller­dings klammere der Gerichtshof hierbei die tatsäch­lichen (wirtschafts­po­li­ti­schen) Wirkungen des PSPP aus. Damit fehle es an einer an sich erfor­der­lichen Abwägung des währungs­po­li­tisch verfolgten Ziels der Preis­sta­bi­lität (Infla­ti­onsrate bei ca. 2 %) mit den tatsäch­lichen wirtschafts­po­li­ti­schen Auswir­kungen des PSPP. Dies sei metho­disch nicht mehr vertretbar, da so der Verhält­nis­mä­ßig­keits­grundsatz letzt­endlich ins Leere laufen würde.

Da das BVerfG bzgl. dieses Teilaspektes das Urteil des EuGHs für ultra-vires erklärt hat, konnte das Verfas­sungs­ge­richt in einem zweiten Schritt prüfen, ob das PSPP der EZB tatsächlich nicht der von ihm gefor­derten Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung standhält. Das BVerfG kommt hier zu dem Schluss, dass es die Verhält­nis­mä­ßigkeit nicht abschließend prüfen kann, da die EZB, soweit ersichtlich, überhaupt keine Abwägung vorge­nommen habe. Es läge ein Abwägungs- und Darle­gungs­ausfall vor, da die EZB sich nicht erkennbar mit einer Abwägung des währungs­po­li­ti­schen Zieles mit den mit dem PSPP zwangs­läufig verbun­denen wirtschafts­po­li­ti­schen Auswir­kungen ausein­an­der­ge­setzt habe.
Wegen dieses Abwägungs- und Darle­gungs­aus­falls sei daher auch das Anlei­hen­kauf­pro­gramm PSPP der EZB – zumindest vorüber­gehend – offen­sichtlich ultra-vires und damit verfassungswidrig.

Da das BVerfG kein Unions­recht für nichtig erklären kann und auch keine Unions­organe zu irgend­welchen Handlungen verpflichten kann, hat die Feststellung der Unver­ein­barkeit mit dem Grund­gesetz lediglich für deutsche Staats­organe unmit­telbare – und damit überschaubare – Folgen. Der Verstoß gegen das Grund­gesetz liegt daher auch gerade in dem pflicht­wid­rigen Unter­lassen von Bundestag und Bundes­re­gierung, geeig­neten Maßnahmen gegen die fehlende Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung seitens der EZB ergriffen zu haben. Folglich werden Bundestag und Bundesrat verpflichtet, soweit möglich auf die EZB einzu­wirken, eine entspre­chende Verhält­nis­mä­ßig­keits­prüfung vorzu­nehmen. Die deutsche Bundesbank hat die Beschlüsse der EZB, an welche sie norma­ler­weise selbst bei einer Kollision mit natio­nalem Recht gebunden ist, unange­wendet zu lassen und darf nicht an deren Umsetzung und Vollzug mitwirken. Dies gelte aber nur dann, wenn die EZB nicht innerhalb von drei Monaten die erfor­der­liche Abwägung nachholt. Das BVerfG gewährt der EZB insoweit eine Frist zur Heilung des vorge­fun­denen Verstoßes. Dass die EZB innerhalb von drei Monaten eine entspre­chende Abwägung nachliefern wird, ist zu erwarten. Abzuwarten bleibt aller­dings, ob dem Verfas­sungs­ge­richt die Abwägung genügen wird, wenn es erneut zur Überprüfung angerufen werden sollte.

3. Unmit­telbare Folgen des Urteils

Mit der Entscheidung von vergan­genem Dienstag hat das BVerfG erstmalig eine Entscheidung des EuGHs partiell für ultra-vires erklärt und damit die grund­sätzlich bestehende Bindungs­wirkung des voran­ge­gan­genen Urteils des EuGHs teilweise verneint. Es hat damit zum ersten Mal tatsächlich von den in seiner Maastricht-Entscheidung aufge­stellten Grund­sätzen für die Unbeacht­lichkeit von Unions­recht Gebraucht gemacht.

Der Europäische Gerichtshof hat auf das Urteil des BVerfG mit einer knappen und nüchternen Presse­mit­teilung reagiert, in welcher er auf die Bindungs­wirkung von Urteilen des EuGHs für nationale Gerichte hinweist. Nur so werde „die Gleichheit der Mitglied­staaten in der von ihnen geschaf­fenen Union gewahrt.“ Die Europäische Kommission prüft zudem momentan, ob sie diesbe­züglich recht­liche Schritte gegen Deutschland, wie zum Beispiel ein Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahren, einleiten wird (Fabius Wittmer).

2020-05-12T17:08:34+02:0012. Mai 2020|Allgemein|

Donner­schlag: Recht auf Vergessen II“ und die umwelt- und energie­recht­liche Praxis

Hassen Sie den Satz „Da kann man nichts machen“ eigentlich auch so wie wir? Irgend­etwas ist hart rechts­widrig, aber es gibt keinen Weg, um der Sache beizu­kommen, und weil die Gegen­seite – das ist bei uns Verwal­tungs­rechtlern oft der Staat – das genau weiß, bemüht sie sich auch gar nicht erst, die Sache mit der Recht­mä­ßigkeit so ganz genau zu nehmen.

Lange verhielt es sich mit Verstößen gegen das Europa­recht so, vor allem in Bezug auf Grund­rechte. Die Grund­rechte der EU stehen in der Grund­rechts­charta, der GRC, die seit 2009 in allen EU-Mitglied­staaten abgesehen vom Noch-EU-Staat Großbri­tannien und Polen gilt. Die Grund­rechte der GRC sehen den deutschen Grund­rechten im Grund­gesetz alles in allem recht ähnlich, aber oft half einem das nicht, wenn ein deutsches letzt­in­stanz­liches Gericht eine Entscheidung getroffen hatte, deren Grund­rechts­kon­for­mität man gern überprüft hätte. Denn beim Europäi­schen Gerichtshof (EuGH) kann man als Unter­nehmen oder Bürger nicht gegen Urteile deutscher Gerichte vorgehen, weil es keine EU-Verfas­sungs­be­schwerde gibt. Und das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) stand seit der Entscheidung „Solange II“ auf dem Stand­punkt (Beschluss vom 22. Oktober 1986, Az: 2 BvR 197/83), dass es für Verfas­sungs­be­schwerden wegen Grund­rechts­ver­let­zungen in Bezug auf abgelei­tetes Gemein­schafts­recht unzuständig ist, solange der EU-Grund­rechts­schutz stabil bleibt.

Für das Umwelt- und Energie­recht hatte „Solange II“ weitrei­chende Folgen. Beide Materien sind sehr, sehr weitgehend verge­mein­schaftet, bestehen also zum aller­größten Teil aus umgesetztem EU-Recht, von der Strom­richt­linie bis zur Emissi­ons­han­dels­richt­linie, der Indus­trie­emis­si­ons­richt­linie und nicht zuletzt der Verbrau­cher­richt­linie, die auch im Energie­be­reich wichtig ist. Hier musste also ein Fachge­richt – etwa das Bundes­ver­wal­tungs­ge­richt – davon überzeugt werden, die Frage der Verein­barkeit der jeweils fallent­schei­denden Frage mit EU-Recht im Wege des Vorla­ge­ver­fahrens nach Art. 267 AEUV dem EuGH vorzu­legen. Wenn dieser Anregung nicht statt­ge­geben wurde, gab es praktisch keinen Weg mehr zu einer Überprüfung, denn die Rüge, hier sei der gesetz­liche Richter vorent­halten worden, ist unserer Erfahrung nach eine eher theore­tische als praktische Möglichkeit. Hinzu kam: Rügte man im Rahmen einer Verfas­sungs­be­schwerde wegen Verletzung deutscher Grund­rechte bei der Umsetzung von EU-Recht auch die Verletzung von primärem EU-Recht selbst, war dies faktisch völlig wirkungslos, denn das BVerfG legte dem EuGH aus Prinzip nicht vor.

Diese oft ausge­sprochen ärger­liche Sackgasse des Rechts­schutzes hat der Erste Senat mit der Entscheidung „Recht auf Vergessen II“ (Beschluss vom 06.11.2019, 1 BvR 276/17) nun gründlich umgebaut. Während er sich bisher für praktisch unzuständig erklärt hatte, wenn es um EU-Grund­rechte geht, will er nun kontrol­lieren, ob deutsche Behörden und Gerichte die Unions­grund­rechte richtig angewendet haben. Das BVerfG ist damit schlag­artig nicht mehr nur das Gericht des Grund­ge­setzes, sondern auch ein Gericht der GRC, die es immer dann heran­ziehen will, wenn es um umgesetztes oder angewandtes Unions­recht geht, also praktisch um 90% des Umwelt- und Energie­rechts. In diesem Segment seiner Recht­spre­chung will das BVerfG künftig auch Ausle­gungs­fragen vorlegen. Das ist bisweilen erfreulich, dürfte aber in vielen Fällen künftig zu noch längeren Verfahren bis zu endgül­tigen Klärungen führen.

Insgesamt meinen wir: Das BVerfG ist im Umwelt- und Energie­recht mit diesem Schachzug wieder zurück auf dem Spielfeld der Relevanz. Hier tritt etwas Paradoxes ein: Indem das BVerfG zugibt, in vielen Fällen nur noch ein Gericht „unterhalb“ des EuGH zu sein, bringt es sich wieder aktiv ins Spiel und gewinnt faktisch wieder an Macht. Zwar sind viele Fragen noch ungeklärt, aber wir freuen uns, künftig voraus­sichtlich doch seltener die Auskunft geben zu müssen, dass in irgend­einem Fall „nichts mehr zu machen“ sei (Miriam Vollmer).

2020-01-13T22:43:14+01:0013. Januar 2020|Allgemein, Verwaltungsrecht|