Der recht­liche Maßstab für Corona-Versamm­lungs­verbote: Zu BVerfG, – 1 BvQ 94/20 -

Wann dürfen Behörden pande­mie­be­dingt Versamm­lungen verbieten? Damit hat sich in einer Eilent­scheidung vom 30. August 2020 (1 BvQ 94/20) das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) beschäftigt. Die Entscheidung fiel in einem Eilver­fahren, das die Anmelder gegen eine Entscheidung des Oberver­wal­tungs­ge­richts (OVG) Berlin-Brandenburg angestrengt hatten, mit der sich die Veran­stalter der Großdemo vom 29. August 2020 zwar in Hinblick auf die Demo, nicht aber in Hinblick auf ein geplantes Dauercamp durch­ge­setzt hatten (dort Ziffer 2.). Mit diesem Dauercamp im Tiergarten wollten die Veran­stalter, die sich „Querdenker 711“ nennen, gegen die Maßnahmen protes­tieren, mit denen Bund und Länder die Ausbreitung der Corona-Pandemie bekämpfen. Die Veran­stalter hatten offenbar vor, so lange rund um die Sieges­säule zu campen, bis die Bundes­re­gierung ihren Wünschen nachkommt.

Unzuläs­sigkeit mangels Rechtswegerschöpfung

Im Ergebnis blieben die Veran­stalter vorm BVerfG erfolglos. Ihr Antrag wurde als unzulässig abgewiesen, weil sie den Rechtsweg nicht ausge­schöpft hatten. Zum einen hatte sich zwischen der Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg und dem Eilantrag beim BVerfG der Sachverhalt maßgeblich geändert, so dass der Antrag­steller nach § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO beim OVG die Änderung des Beschlusses hätte beantragen können. Zum anderen hatte der Veran­stalter, der auch die Verletzung recht­lichen Gehörs gerügt hatte, die in solchen Fällen faktisch obliga­to­rische Anhörungsrüge nach § 152a VwGO nicht erhoben.

In den sozialen Medien wurde die so begründete Unzuläs­sigkeit teilweise als „Unfähigkeit“ der Antrag­steller und ihrer Verfah­rens­be­voll­mäch­tigten disku­tiert. Angesichts des Umstandes, dass die OVG-Entscheidung erst in der Nacht auf den Samstag, den 29. August 2020, fiel, und das BVerfG schon am Folgetag, am Sonntag, den 30. August 2020, entschied, stellt sich die Frage, wie viele Kollegen hier wirklich die Nerven gehabt hätten, erneut den Weg zum OVG einzu­schlagen, zumal das Rechts­mittel des § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO unserer Erfahrung nach selbst unter spezia­li­sierten Kollegen wenig prakti­ziert wird, aber von der Galerie kriti­siert es sich ja immer leicht.

Obiter dictum: Unbegrün­detheit des Antrags

Das BVerfG hätte es bei der Zurück­weisung als unzulässig belassen können. Es hat aber die Gelegenheit genutzt, obiter dictum auf den Maßstab für Versamm­lungs­verbote nach § 15 Abs. 1 Versamm­lungs­gesetz (VersG) in Zeiten der Pandemie einzu­gehen. Diese Ausfüh­rungen stellen eine wertvolle Handrei­chung für die weitere Handhabung von Versamm­lungen in den nächsten Wochen und Monaten dar:

Zunächst rückt das BVerfG die staat­liche Schutz­pflicht gegenüber Leben und Gesundheit (wir kennen sie vor allem aus der Abtrei­bungs­de­batte) anderer Menschen als der Versamm­lungs­teil­nehmer ins Schein­wer­fer­licht. Es geht bei der Frage, ob Versamm­lungen auch in der aktuellen Lage statt­finden dürfen, nämlich nicht nur um die Grund­rechte der Versamm­lungs­teil­nehmer. Es geht auch um die Rechte der an der Versammlung unbetei­ligten Menschen, die durch eine erhöhte Anste­ckungs­gefahr geschädigt werden. Damit verschiebt das Gericht den Abwägungs­maßstab. Bildlich gesprochen liegt auf der anderen Seite von Justitias Waage ein deutlich schwe­reres Gewicht als VG Berlin und OVG Berlin-Brandenburg in ihren Entschei­dungen zum großen Demozug vom 29. Auguts 2020 zuvor angenommen hatten.

Sodann geht das BVerfG auf die Verhält­nis­mä­ßigkeit der Unter­sagung des Dauer­camps ein. Verbote als schwerer Eingriff in die Versamm­lungs­freiheit sind nämlich nur dann zulässig, wenn kein ebenso geeig­netes, aber milderes Mittel in Frage kommt, und die Maßnahme zudem angemessen ist. Hier zählt das BVerfG mehrere Maßnahmen auf, die es für milder hält als Verbote: Die Versamm­lungs­be­hörde kann z. B. die Teilneh­merzahl beschränken, Mindest­ab­stände verfügen, eine Masken­pflicht aufer­legen. Die Masken­pflicht kann – anders als das OVG meinte – sogar dann verhängt werden, wenn ansonsten im Freien landes­ge­setzlich keine Masken­pflicht besteht.

Im vorlie­genden Fall war die Versamm­lungs­be­hörde aber nicht verpflichtet, es bei solchen milderen Auflagen zu belassen, weil das BVerfG in diesem ganz spezi­ellen Fall nicht von deren Geeig­ne­theit ausgeht. Das BVerfG glaubte den Veran­staltern nämlich nicht, dass deren Hygie­ne­konzept funktio­niert und einge­halten wird, nachdem sich bei nun ja schon zwei von ihnen veran­stal­teten Demons­tra­tionen die Teilnehmer nicht an die vorher vorge­legten Hygien­kon­zepte hielten. Das ist nicht sonderlich überra­schend, denn die Teilnehmer waren ja gerade nach Berlin gekommen, weil sie solche Schutz­maß­nahmen für überflüssig und übergriffig halten. Aber angesichts dessen darf die Versamm­lungs­be­hörde für weitere Veran­stal­tungen ihre Schlüsse ziehen. Damit schließt das BVerfG an eine andere Entscheidung vom 11. Juni 2020 (1 BvQ 66/20) an, in der es ebenfalls bezüglich eines Versamm­lungs­verbots während der Corona-Pandemie die Vorer­fah­rungen mit dem Veran­stalter thema­ti­siert hatte.

Wann sind Versamm­lungen zulässig?

Im letzten Abschnitt geht das BVerfG deutlich darauf ein, wann Versamm­lungen derzeit als zulässig anzusehen sind: Wenn der Veran­stalter ein Hygie­ne­konzept vorlegt, das nachvoll­ziehbar Schutz vor Anste­ckungs­ge­fahren bietet. Dieses Konzept muss zum einen abstrakt medizi­nisch nach dem aktuellen Wissens­stand überzeugen. Die Behörde muss sich aber zum anderen auch bei der konkreten Gefah­ren­pro­gnose nicht für dumm verkaufen lassen: Wenn es gute Gründe für die Annahme gibt, dass der Veran­stalter dieses Konzept nicht durch­setzt, stehen seine Chancen vor Gericht schlecht (Miriam Vollmer).

2020-09-02T09:46:02+02:001. September 2020|Allgemein, Verwaltungsrecht|

Indivi­duelle Netzent­gelte und Corona

Der § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV gewährt Indus­trie­un­ter­nehmen, die über mehr als 7.000 Stunden im Jahr mindestens 10 GWh Strom beziehen, ein beson­deres Netzentgelt. Sie zahlen also deutlich weniger für den Transport von Elektri­zität, als für den Transport der „ganz normalen“ Energie anfallen würde, die alle anderen Netznutzer im Netzgebiet beziehen. Beziehen sie praktisch immer, also mehr als 8.000 Stunden im Jahr, zahlen sie nur 10% des veröf­fent­lichten Netzentgeltes.

Dieses abgesenkte Netzentgelt ist aber kein Geschenk, auf das die Unter­nehmen so ohne Weiteres verzichten könnten. Insbe­sondere in einer krisen­haften Lage wie 2020 würde es manches betroffene Unter­nehmen vor ernst­hafte Probleme stellen. Denn in den Verträgen über die besondere Netznutzung heißt es regel­mäßig, dass das indivi­duelle Netzentgelt gewährt wird und im Gegenzug der Letzt­ver­braucher durch den Bandlast­bezug das Netz entlastet. Tritt diese Entlastung nicht ein, weil auf einmal weniger als 10 GWh oder nicht mehr über mehr als 7.000 Stunden bezogen wird, entfiele das besondere Netzentgelt. Die Kosten für elektrische Energie würden unbezahlbar, mindestens würden die Produkt­kosten deutlich steigen, was insbe­sondere bei Produkten, die auf dem Weltmarkt zu einheit­lichen Preise verkauft werden, proble­ma­tisch ist.

Um Unter­nehmen, die ohnehin mit dem Konjunk­tur­sturz aufgrund der aktuellen Situation kämpfen, nicht noch mit diesem Problem zu belasten, hat das Bundes­wirt­schafts­mi­nis­terium mit Datum vom 8. Juli 2020 einen Referen­ten­entwurf vorgelegt, der unter anderem vorsieht, dass Unter­nehmen 2020 ihr indivi­du­elles Netzentgelt auch dann behalten, wenn sie 2020 die Voraus­set­zungen nicht erfüllen. Es reicht, wenn dies 2019 der Fall war. Dies ergibt sich aus einem neuen § 32 Abs. 10 StromNEV, der lauten soll:

Soweit eine indivi­duelle Netzent­gelt­ver­ein­barung nach § 19 Absatz 2 Satz 2 bis 4 bis zum 30. September 2019 bei der Regulie­rungs­be­hörde angezeigt wordenist, besteht im Kalen­derjahr 2020 ein Anspruch auf Weiter­geltung des verein­barten indivi­du­ellen Netzent­gelts, wenn die Voraus­set­zungen im Kalen­derjahr 2019 erreicht worden sind. Wird der Anspruch nach Satz 1 geltend gemacht, ist § 19 Absatz 2 Satz 18 mit der Maßgabe anzuwenden, dass für die tatsäch­liche Erfüllung der Voraus­set­zungen auf das Kalen­derjahr 2019 abgestellt wird.“

Da § 19 Abs. 2 StromNEV nicht geändert wird, können Unter­nehmen entweder durch die Bezugs­struktur 2019 oder 2020 den erfor­der­lichen Nachweis führen. Viele Unter­nehmen würden aufatmen, denn noch im Mai äußerte sich die Bundes­netz­agentur (BNetzA) dahin­gehend, keine Ausnahmen zuzulassen.

Wie geht es nun weiter? Der Entwurf war zum Zeitpunkt der Veröf­fent­li­chung noch nicht innerhalb der Bundes­re­gierung abgestimmt. Bis zum 13. Juli lief zudem eine Stellung­nah­me­frist für die Öffent­lichkeit. Es ist anzunehmen, dass Entschei­dungen nach der Sommer­pause getroffen werden. Noch ist die Sache also nicht in trockenen Tüchern, doch immerhin hat sich die Politik der pande­mie­be­dingten Notlage angenommen (Miriam Vollmer).

2020-08-26T23:52:31+02:0026. August 2020|Energiepolitik, Industrie, Strom|

Die aufge­schobene Triage

Von allem Justiz­per­sonal können sich Verfas­sungs­richter wohl am ehesten erlauben, Philo­sophen zu sein. Etwas über den Dingen zu schweben und sich Fragen hinzu­geben, die sich außerhalb des Alltäg­lichen stellen. So Fragen, in denen Wertkon­flikte unserer Gesell­schaft exempla­risch auf den Punkt gebracht werden. Bezüglich einer solchen Frage, nämlich der der sogenannten Triage, hat das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt vor ein paar Tagen einen Eilantrag abgelehnt, was nicht ausschließt, dass es sich später im Haupt­ver­fahren vertieft damit beschäftigt.

Den Eilantrag hatten mehrere kranke und behin­derte Menschen gestellt. Sie waren der Auffassung, dass die Triage, also eine Entscheidung über knappe medizi­nische Ressourcen im Katastro­phenfall, bzw. im Verfahren ganz konkret bezogen auf die Corona-Pandemie, zu regeln sei bevor der medizi­nische Notstand eintritt. Aller­dings lehnte das Gericht zum gegen­wär­tigen Zeitpunkt die Eilbe­dürf­tigkeit ab. Denn aktuell sei nicht abzusehen, dass ein Notstand in den Kranken­häusern unmit­telbar bevorstünde.

Tatsächlich geht es bei der Triage juris­tisch ans Einge­machte. Denn an sich lässt das Grund­gesetz nicht zu, dass Leben gegen Leben abgewogen wird. Auf der anderen Seite haben Ärzte einen eher pragma­ti­schen Ansatz und versuchen, mit den begrenzten Mitteln in Katastro­phen­si­tua­tionen möglichst viele Menschen­leben zu retten. So etwa in den Empfeh­lungen der Deutschen Inter­dis­zi­pli­nären Verei­nigung für Intensiv- und Notfall­me­dizin (DIVI). Das kann aber auch bedeuten, dass Fälle mit geringen Überle­bens­chancen nachrangig behandelt werden. Ebenso wie Fälle, die auch ohne ärztlichen Eingriff eine gute Chance haben zu überleben. Aus verfas­sungs­recht­licher Sicht nicht unpro­ble­ma­tisch, wenn es auf eine syste­ma­tische Diskri­mi­nierung Behin­derter oder Vorer­krankter hinaus­läuft. Insofern wird es noch spannend, wie das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt im Haupt­sa­che­ver­fahren entscheiden wird (Olaf Dilling).

2020-08-17T21:17:01+02:0017. August 2020|Allgemein|