Brexit oder Brücke?
Es ist fast ein bisschen mitleiderregend, zurzeit nach Westminster zu schauen. Wenn von der BBC spätabends politische Diskussionen übertragen werden, sind vor allem ratlose, wütende und verzagte Gesichter zu sehen. Es ist wohl nicht wirklich die Stimmung, die sich die Verfechter einer souveränen Insel-Nation erwartet hatten. Diejenigen, die sich vom Brexit einen klaren Schnitt von der EU erwartet hatten, dürften spätestens jetzt eingesehen haben, dass die Klarheit und Einfachheit dieses Schnitts eine Illusion war.
Klar ist derzeit nur, dass es zur Zeit der Entscheidung über den Brexit noch vollkommen unklar war, was auf Großbritannien zukommen würde. Und der Brexit hat in dem Moment aufgehört einfach zu sein, als deutlich wurde, dass der scheinbar einfache Pfad, der mit der Entscheidung zum Austritt aus der EU eingeschlagen wurde, sich in unendlich viele Verzweigungen und Sackgassen verläuft. Von diesen Verzweigungen sind, wie sich nun selbst viele Befürworter des Austritts eingestehen müssen, die allermeisten gangbaren ganz eindeutig keine Verbesserung gegenüber der Mitgliedschaft in der EU.
Vor allem führt die aktuelle politische Unsicherheit auch für Unternehmen zu einer unerträglichen, weiterhin andauernden Rechtsunsicherheit. Bis jetzt ist nicht klar, welche Regeln ab März 2019 gelten werden: Die von der Regierung May tatsächlich ausgehandelten, Neuverhandlungen auf der Basis einseitiger Wunschvorstellungen, gar keine Vereinbarungen im Sinne eines harten Brexit – oder doch eine Rückkehr zur Vollmitgliedschaft? Dass der geordnete Rückzug vom Brexit gestern durch den Europäische Gerichtshof noch als rechtlich möglicher Weg ergänzt wurde, hat in Westminster offenbar so für Verwirrung gesorgt, dass Theresa May die für heute geplante Abstimmung über ihre Vereinbarung mit der EU im Unterhaus auf unbestimmte Zeit verschoben hat.
Es handelt sich im Kontext des Brexits sicherlich nicht um das brennendste Problem, aber selbst in der Energiewirtschaft würde sich Etliches zum Schlechteren wenden; jedenfalls dann, wenn nach dem aktuellen Stimmungsbild im Unterhaus zwar am Brexit festgehalten, aber Theresa Mays Vereinbarungen nicht unterstützt werden. Großbritannien wird dann nicht nur aus dem Euratom-Vertrag und der gemeinsamen Forschung über die Kernfusion aussteigen. Auch der gemeinsame Energiebinnenmarkt würde wieder separiert werden. Steigende Energiepreise und eine Verschlechterung der Versorgungssicherheit wären die wahrscheinliche Konsequenz. Zudem könnte Großbritannien dann auch umwelt- und klimapolitisch ausscheren und den Ausbau der erneuerbaren Energien vernachlässigen. Jedenfalls gibt es im Land selbst nun Befürchtungen, dass es wieder, wie in den 1980er Jahren, zum „dirty man of Europe“ werden könnte.
Die Moral, die sich Populisten und ihre Anhänger hinter die Ohren schreiben sollten: wenn über Jahre Zusammengewachsenes plötzlich nicht mehr zusammen gehören soll, dann ist heillose Verwirrung und Paralyse die Folge, auch wenn ein klarer Schnitt und souveräne Freiheit intendiert war. England, you could and you can do better, denken wir uns und zitieren zum Beweis John Donnes prophetische Meditation von 1623 über die Vernetzung des Menschen in einem großen Ganzen:
„No man is an island entire of itself; every man / is a piece of the continent, a part of the main / if a clod be washed away by the sea, Europe / is the less…”
Vielleicht, so hoffen wir, lässt sich die Insel Albion ja doch wieder mit dem Kontinent verbinden. Der Europäische Gerichthof hat eine Brücke gebaut. Die Briten brauchen sie nur noch zu beschreiten.