Vision Zero: Durfte hier der Kutscher nicht?
Vision Zero ist ein Schlagwort, das Ende der 1990er Jahre in Schweden geprägt wurde. Inzwischen hat sich die Idee weltweit verbreitet. Der Hintergrund: Irren ist menschlich, ob auf der Straße oder im Arbeitsleben. Da nun alle Menschen fehleranfällig sind, stellt sich die Frage nach robusten technischen oder infrastrukturellen Systemen. Sie sollen menschliche Fehler auffangen können. So sicher, dass zumindest kein Mensch im Straßenverkehr oder am Arbeitsplatz sterben muss.
In gewisser Weise ließe es sich sogar noch radikaler formulieren: So wurden mit dem Bau von Straßenkreuzungen mit Fahrradwegen und querenden Abbiegemöglichkeiten für Lkw – unbewusst – regelrechte „Todesfallen“ gebaut. Jedes Jahr sterben in Deutschland ca. 30 Fahrradfahrer nach Unfällen mit rechts abbiegenden Lkw. Dass an diesen Unfällen keiner der unmittelbar Beteiligten in einem direkten Sinn „Schuld“ hat, bringt die Medien oft dazu von „tragischen“ Unfällen zu sprechen. Und tatsächlich ist ein Blick in die inzwischen im Netz kursierenden Videos erhellend, in denen das Unfallgeschehen analysiert wird: Die Lkw-Fahrer haben die Radfahrer im „toten Winkel“, die Radfahrer hingegen sehen nur, dass sie grün haben und rechnen nicht damit, vom hinter Ihnen fahrenden Lkw übersehen und von seinem ausschwenkenden Anhänger seitlich erfasst zu werden. Es gibt insofern auch Kreuzungen, die schon berüchtigt sind, für die lebensgefährlichen Unfälle, die sich dort immer wieder ereignen.
Insofern hilft es tatsächlich auch wenig, die individuellen Unfallbeteiligten verantwortlich zu machen. Es ist ein wenig wie in dem makaber-humoristischen Gedicht von Christian Morgenstern, in dem der überfahrene Palmström sich mit dem Tode ringend müßigerweise fragt: „Durfte hier der Kutscher nicht?“… Natürlich kann es helfen, die Verantwortung der Verkehrsteilnehmer durch Sicherheitsregeln zu schärfen. So hat das Verkehrsministerium mit der StVO-Reform bereits einen (wenn auch aus handwerklich-formalen Gründen: untauglichen) Versuch unternommen, das Problem abzumildern. Nämlich durch das Gebot für Lkw, innerorts nur noch mit Schrittgeschwindigkeit abzubiegen, wenn Fuß- und Fahrradverkehr zu erwarten ist. Allerdings sind auch seit April in Deutschland wieder Fahrradfahrer bei Abbiegeunfällen gestorben.
Tatsächlich geht die Diskussion daher inzwischen dahin, dass das „tragische“ Problem vor allem technisch zu lösen sei. Denn dass effektiv mit Schrittgeschwindigkeit gefahren wird, setzt unrealistisch hohe Erwartungen in das korrekte Verhalten von Verkehrsteilnehmern. Die Alternative ist die Umgestaltung technischer Systeme, die Anpassung der Produktgestaltung von Lkw durch sogenannte Abbiegeassistenten und die verkehrssichere Planung von Kreuzungsbereichen. Dass es bekannte Todesfallen gibt, an denen die zuständigen Straßen- und Straßenverkehrsbehörden keine Schritte in Richtung Vision Zero unternehmen, ist tatsächlich einigermaßen skandalös. Es erinnert an die hilflose Überlegung von Palmström, ob „die Staatskunst“ anzuklagen sei (und zweifelsohne dürfte hier ein Potential für Staatshaftungsklagen liegen).
Solange die „Staatskunst“ die Aufgabe, Straßenkreuzungen sicher zu gestalten, aber nicht erfolgreich angenommen hat, empfehlen wir unseren Kindern (und auch allen anderen, die das hören wollen) allerdings ganz dringend Folgendes: Nicht immer auf ihrem Recht zu beharren, sondern im Zweifel den Kürzeren zu ziehen, auch wenn dies auf Dauer unbefriedigend ist. Sie sollen ja nicht wie Palmström enden, der zwar noch messerscharf schloss, „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“, aber doch nur hypothetisch weiterleben konnte.
Falls Sie sich übrigens vertieft für verkehrsrechtliche Fragen interessieren: Wir bieten Ende Oktober ein Webinar zum Thema Verkehrsversuche an, zu dem Sie sich hier anmelden können (Olaf Dilling).