Das BVerfG hat am 30. November 2021 einen Beschluss über die Zulässigkeit der Schulschließungen im Frühling 2021 im damaligen § 28b IfSG getroffen (1 BvR 971/21, 1 BvR 1069/21). Ein erster Blick: Was steht drin, was hat das für heute und die Zukunft zu bedeuten?
Absolut breaking im ersten Schritt: Das BVerfG erkennt das Recht auf schulische Bildung an. Es soll aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG fließen. Das ist mal ein Wort. Der Staat hat also nicht nur diesen Auftrag, der Schüler kann seine Erfüllung auch einfordern. Ob der Staat das in manchen maroden Schulen überhaupt noch einlöst? Wie sieht es bei Behinderungen aus?
In dieses Grundrecht hat der Staat durch Schulschließungen eingegriffen. Anders als die Hobbyjuristen von der Telegram-Universität glauben, bedeutet das nicht, dass die Maßnahme deswegen verfassungswidrig wäre. Nein, wir fragen im nächsten Schritt nach der Rechtfertigung. Eingriffe müssen nämlich formell und materiell verfassungskonform sein: Formell ist alles fein, Bund für IfSG zuständig, Gesetz auch nicht zustimmungsbedürftig durch den Bundesrat.
Der für materiell verfassungskonforme Eingriffe erforderliche Zweck ist die Erfüllung staatlicher Schutzpflichten nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG: Der Staat hat einen Schutzauftrag für Leben und Gesundheit. Das BVerfG sieht die Schulschließung als geeignet an, diesen Zweck zu erreichen: Kinder können ansteckend sein und das Virus verbreiten. Wenn sie nicht zur Schule gehen, reduziert sich diese Verbreitung: Check! Das BVerfG hat also die Fremdnützigkeit dieser Einschränkung akzeptiert, was im Vorfeld auch bezweifelt worden ist.
Die Schulschließung muss das mildeste von potentiell gleich geeigneten Mitteln sein. Hier hat der Senat Sachverständige gefragt, ob Tests und Hygienemaßnahmen nicht gleich geeignet wären. Die Sachverständigen haben das mehrheitlich abgelehnt, zumindest für Schnelltests. Nun wird es aber haarig: War die Schulschließung auch angemessen? Das BVerfG erkennt in Step 1 an, dass oft nicht digital unterrichtet wurde und Kinder Lernrückstände und Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung erlitten hätten.
Aber: Der Senat meint, dass Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung – Leben und Gesundheit – diese Nachteile überwiegen. Er argumentiert mit steigenden Intensivpatientenzahlen, Mutationen, die Impfkampagne war gerade erst gestartet. Nach dem BVerfG ist Präsenzunterricht also besonders wichtig, aber es gibt NOCH wichtigere Rechtsgüter. Trotzdem muss der Gesetzgeber dem wichtigen Unterricht Rechnung tragen. Das hat er aber auch getan: Schulen sollten erst bei Inzidenz 165 (haha …) statt wie andere Einrichtungen bei 100 schließen. Der Gesetzgeber hat den Kinderrechte auf Schule auch durch Ausnahmen Rechnung getragen (Abschlussklassen, Notbetreuung auch für Kinder mit schwierigen Startbedingungen), was das BVerfG weiter milde stimmt.
Interessant für die kommenden Wochen: Der Senat meint, dass dort, wo es keinen vernünftigen Distanzunterricht gab, Schülerinnen und Schüler entsprechende Vorkehrungen verlangen konnten. Das wird manche Eltern aufhorchen lassen. Nochmal kommen die Schulen nicht so leicht davon. Für April 2021 meint das BVerfG jedenfalls, dass der Bund auch keine freiheitsschonenderen Maßnahmen versäumt hat, wie Luftfilter etc. Da fragt man sich, wie das heute aussieht. Aber der Senat formuliert hier sehr vorsichtig, das ist kein Drop Out Kriterium.
Wichtig für das BVerfG: Die kurzzeitige Beschränkung der Schulschließungen. Die Impfkampagne lief damals an. Das BVerfG weist daraufhin, dass bei fortschreitender Impfkampagne die Schulschließungen an Rechtfertigung verlieren würden. Spontan fragt sich der Leser an dieser Stelle, ob damit heute Schulschließungen nicht unverhältnismäßig wären, weil Erwachsene sich impfen lassen können. Ist eine Impfpflicht evtl. milderes Mittel? Auf der anderen Seite hat auch der Lebensschutz bei Inzidenzen >400 eine andere Bedeutung.
Auch in das Familiengrundrecht nach Art. 6 Abs. 1 GG sieht der Senat keinen Eingriff. Zwar hätten Eltern bis zu 2,3 Std. am Tag mehr Aufwand gehabt, aber der Staat hätte die erforderlichen Maßnahmen der Familienförderung getroffen, v. a. Notbetreuung, auch Entschädigungsansprüche.
Alles fein also für die Vergangenheit. Für eine Schulschließung heute muss der Gesetzgeber aber darlegen, dass er alles getan hat, um diesen Schritt zu vermeiden. Unser Tipp: Impfpflicht als milderes Mittel. Und Schulschließungen erst, wenn alles, wirklich alles andere dicht ist (Miriam Vollmer).
[…] https://recht-energisch.de/2021/11/30/sind-schulschliessungen-verfassungskonform-eine-erste-analyse/ […]