StVO-widrig: Berliner Senat zur Tempo 30-Ablehnung vor einer Grundschule

Die Anordnung von Tempo 30 ist regel­mäßig ein Streitfall. In Berlin gab es nun eine Anfrage an den Senat, wann im Umfeld einer Grund­schule in Berlin-Karls­horst Tempo 30 angeordnet wird. Die Antwort des Senats sieht keine ausrei­chende Rechts­grundlage gegeben. Angekündigt wird, eine Prüfung erst vorzu­nehmen, sobald die jüngste StVO-Novelle (BGBl. I 2024 Nr. 299) final durch – bereits geplante – Änderungen in der Verwal­tungs­vor­schrift (VwV-StVO) konkre­ti­siert wurde. Der Senat sieht als maßgeb­lichen Bestandteil der Anordnung das Vorliegen eines hochfre­quen­tierten Schulwegs (zum Nachlesen: AGH-Drs.19/21526).

Das ist so nicht richtig – die Begründung geht in mehrfacher Hinsicht an der geltenden Rechtslage vorbei. Das ist misslich, da jede Fehlein­schätzung im ohnehin bereits unüber­sicht­lichen Straßen­ver­kehrs­recht – und in einer fortge­setzt polari­sierten Debatte – zu weiteren Mythen­bil­dungen beiträgt, die letztlich die Arbeit der Verwaltung erschweren.

  1. Auf die Auslegung des Rechts­be­griffs „hochfre­quen­tierter Schulweg“ kommt es für diesen Fall gar nicht an – und der jüngsten StVO-Novelle bedurfte es nicht, um vor der Grund­schule die Geschwin­digkeit des KFZ-Verkehrs zu begrenzen. Denn die Anordnung von Tempo-30-Strecken vor Kinder­gärten und Kitas, Schulen, Kranken­häusern und Pflege­ein­rich­tungen ist schon seit 2016 (BGBl. I 2848) möglich, ohne dass dafür die nach § 45 Abs. 9 S. 3 StVO gefor­derte „quali­fi­zierte Gefah­renlage“ vorliegen muss. Und zwar auch auf überört­lichen und Vorfahrtstraßen.
  2. Das Abwarten von Änderungen in der ermes­sens­lei­tenden Verwal­tungs­vor­schrift VwV-StVO ist nicht nötig: Die VwV-StVO sieht schon heute die Anordnung von Tempo 30 auf 300m im unmit­tel­barer Nähe der genannten Einrich­tungen als Regelfall [!] an – immer dann, wenn die Einrichtung einen direkten Zugang zur Straße hat oder starke Ziel- und Quell­ver­kehre vorhanden sind (typischer­weise Hol- und Bring­ver­kehre der Eltern, sowie Fuß- und Radverkehr der an- und abfah­renden Schul­kinder). Lediglich in Ausnah­me­fällen, zum Beispiel wenn der ÖPNV-Takt durch die Geschwin­dig­keits­be­grenzung so stark beein­trächtigt wird, dass dies die erwar­teten Sicher­heits­ge­winne aufzehrt, kann laut VwV-StVO vom Regelfall Tempo 30 vor Schulen abgewichen werden.
  3. Die VwV-StVO ist nicht zuletzt eben genau nur das, was der Senat selbst schreibt: eine Ausle­gungs­hilfe. Sie schafft allein keine Rechts­grundlage und ohne sie fehlt kein Recht. Die Ermes­sens­ent­scheidung der Behörde kann im Einzelfall auch begründet von den Leitlinien der VwV abweichen. Wenn, wie hier mit § 45 Abs. 9 S. 4 Nr. 6 StVO, eine Anord­nungs­grundlage vorhanden ist, kann diese auch angewendet werden.

Die Verkehrs­si­cherheit insgesamt, aber besonders für Schul­kinder hat bei der Abwägung mit anderen Verkehrs­be­langen hohes Gewicht. Denn auch die „Vision Zero“ (keine Verkehrs­un­fälle mit Todes­folge oder schweren Perso­nen­schäden) ist schon heute in der VwV-StVO als Grundlage aller verkehr­lichen Maßnahmen klar benannt. Umstände, weshalb vor Ort eine Ausnahme vom Regelfall Tempo 30 vor Schulen gegeben sein soll, hat der Senat nicht mitge­teilt. Seine Einschätzung ist daher nicht nachzu­voll­ziehen – und Gemeinden, sowie Straßen­ver­kehrs­be­hörden sollten sich für vergleichbare Frage­stel­lungen davon nicht verun­si­chern lassen. (Friederike Pfeifer)

2025-02-26T19:22:30+01:0026. Februar 2025|Verkehr, Verwaltungsrecht|

Benut­zungs­pflicht: Schlechten Radweg an gefähr­licher Straße

Radfahrer dürfen öfter auf der Fahrbahn fahren, als gemeinhin angenommen. Die jeden­falls dann, wenn ein Radweg vorhanden ist, dieser aber nicht als solcher mit entspre­chenden Verkehrs­zeichen gekenn­zeichnet ist. Grund­sätzlich auch, wenn ein Radweg wegen einer geschlos­senen Schnee­decke, einer Baustelle oder Falsch­parkern unbenutzbar ist.

Die Benut­zungs­pflicht eines vorhan­denen und durch Verkehrs­zeichen als solchen gekenn­zeich­neten Radwegs besteht jedoch manchmal auch dann, wenn der Zustand des Wegs nicht den üblichen Anfor­de­rungen genügt. Dass die Anordnung der Benut­zungs­pflicht dadurch nicht automa­tisch rechts­widrig ist, zeigt eine aktuelle verwal­tungs­ge­richt­liche Entscheidung vom Verwal­tungs­ge­richt (VG) Hamburg.

Radfahrersymbol auf Asphaltdecke

Ein Fahrrad­fahrer hatte gegen die Radweg­be­nut­zungs­pflicht auf der Strese­mann­straße im Bereich der Stern­brücke geklagt. Die Strese­mann­straße ist eine mehrstreifige Haupt­ver­kehrs­straße auf der grund­sätzlich 50 km/h gilt, jedoch – auch im Bereich des streit­ge­gen­ständ­lichen Straßen­ab­schnittes – abschnitts­weise Tempo 30 angeordnet ist. Auf der Straße gab es in den letzten Jahren zahlreiche Unfälle, auch mit Fahrrad­be­tei­ligung. Der Fahrradweg bzw. gemeinsame Geh- und Radweg ist mit zum Teil durch­gehend unter 2 m schmaler als in der Verwal­tungs­vor­schrift, bzw. den Empfeh­lungen für Radver­kehrs­an­lagen (ERA) der Forschungs­ge­sell­schaft für das Straßen- und Verkehrs­wesen (FGSV). Der Weg weist zudem weitere Abwei­chungen vom Standard auf, z.B. sind dort mehrere Hausein­gänge ohne Neben­flächen bzw Sicher­heits­ab­stände und eine Bushaltestelle.

Die Anordnung einer Radweg­be­nut­zungs­pflicht setzt genauso wie andere Einschrän­kungen des fließenden Verkehrs eine quali­fi­zierte Gefah­renlage gemäß § 45 Abs. 1 und 9 StVO voraus und muss ermes­sens­feh­lerfrei und verhält­nis­mäßig sein. Das Verwal­tungs­ge­richt hat die Anordnung des Radweges als gemein­samer Geh- und Radweg dennoch als recht­mäßig angesehen. Denn die erheb­liche und quali­fi­zierte Gefahr für die Sicherheit der Radfahrer würde hier als Grund für die Anordung ausreichen. Die unstrit­tigen Defizite des Radwegs, die den Anfor­de­rungen der Verwal­tungs­vor­schrift nicht entsprächen, seien im Einzelfall hinzu­nehmen, wenn dies das Ergebnis einer sorgfäl­tigen Abwägung der Belange aller Verkehrs­teil­nehmer ist. Die ERA seien ohnehin nur Empfeh­lungen, die keinen Rechts­cha­rakter haben, sondern nur als Sachver­stän­di­gen­gut­achten zu werten.

Richtig zufrie­den­stellend ist die Entscheidung nicht, zumal auch die Hilfs­an­träge abgelehnt wurden, die vom Kläger auf Ertüch­tigung des Radwegs gestellt wurden. Diese seien schon unzulässig, weil nicht bestimmt genug sei, was für Maßnahmen zur Ertüch­tigung ergriffen werden müssten. Zudem hätte aber auch die Straßen- bzw. Straßen­ver­kehrs­be­hörde einen weitge­henden Einschät­zungs­spielraum bei der baulichen Verän­derung der Straße. Rechtlich ist das alles nachvoll­ziehbar, zeugt aber davon, wie gering weiterhin der Rang ist, dem die Flüssigkeit und Sicherheit des Rad- und Fußver­kehrs einge­räumt wird. (Olaf Dilling)

2023-02-21T15:08:00+01:0021. Februar 2023|Rechtsprechung, Verkehr|