Der verlängerte Arm der Justiz
Wenn es um Umweltzerstörung oder Menschrechtsverletzungen von international tätigen Konzernen geht, dann entsteht oft der Eindruck, sie seien überall und nirgendwo: Sie könnten überall Profite generieren, aber nirgendwo dafür zur Rechnung gezogen werden. Tatsächlich stimmt das so nicht ganz. Denn das Rechtssystem bietet sehr wohl Möglichkeiten, Unternehmensverbünde auch grenzüberschreitend zur Rechnung zu ziehen.
Dies zeigt aktuell ein Pfändungs- und Überweisungsbeschluss des Amtsgerichts (AG) Merseburg (Az 18 aM 815/19). Dieser Beschluss ist nur das vorläufige Ende einer Serie von Gerichtsentscheidungen, die in verschiedenen Staaten gegen Dow Chemicals erwirkt worden.
Alles geht zurück auf die 1980er Jahre in Nicaragua. Dort wurden Arbeiter auf Ananas- und Bananenplantagen durch Pestizide von Dow Chemical geschädigt, Tausende wurden dadurch unfruchtbar. Ursache ist der Wirkstoff DBCP, der unter den Handelsnamen Fumazone bzw. Nemagon vertrieben wurde. Der Stoff war bereits 1977 in den USA verboten worden. 1997 war ein Vergleich zwischen Dow und 26.000 Arbeitern verschiedener Staaten erzielt worden, an die 41 Millionen Dollar verteilt worden waren. Allerdings hatten nicht alle Opfer dem Vergleich zugestimmt.
Daher konnten über 1000 Plantagenarbeiter in Nicaragua mehrere Gerichtsentscheidungen gegen Dow Chemicals erwirken, in denen ihnen knapp 945.000.000 Dollar zugesprochen wurden. Diese Entscheidungen wurden jedoch nicht von amerikanischen Gerichten anerkannt. Daher zogen die Geschädigten weiter nach Europa. Denn auch dort hat Dow Chemicals erhebliche Vermögenswerte. Zunächst erließ ein Gericht im französischen Bobigny im vorläufigen Rechtsschutz einen Vollstreckungsbeschluss, bei dem auf relativ großzügige Weise die Zuständigkeit für Menschenrechtsfragen ausgelegt wurde. Daraufhin war auch in Deutschland über das „Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“ (EuGVÜ) die Zuständigkeit gegeben. Da im sachsen-anhaltinischen Schkopau der Dow Olefinverbund mit erheblichen Vermögenswerten belegen ist, wandten sich die Kläger nun an das AG Merseburg, das besagten Pfändungsbeschluss erließ.
Letzte Woche wurde dieser Beschluss auch vom Gerichtsvollzieher in Schkopau zugestellt. Allerdings ist, da es sich um ein Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz handelt, zu erwarten, dass Dow Chemicals sich weiterhin mit allen rechtlich zu Gebote stehenden Mitteln wehrt. Es ist aber vermutlich nur eine Sache der Zeit, bis die Forderungen eingetrieben werden.
Der Fall zeigt, dass Gerichte bei einem effektiven Zusammenspiel die sicheren Häfen schließen können, in denen sich Konzerne auf der Flucht vor der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen verstecken können. Allerdings zeigt er auch, dass die Mühlen der Gerichte über Staatsgrenzen hinweg oft besonders langsam mahlen. Die allermeisten der vor 40 Jahren geschädigten Plantagenarbeiter dürften inzwischen jedenfalls längst in Rente sein.