Barrie­re­freier Umwelt­verbund 2022

Das Prinzip der Barrie­re­freiheit lenkt den Blick auf Behin­de­rungen im öffent­lichen Raum. Eine Behin­derung, das ist dann nicht primär eine Lähmung, ein amputiertes Bein oder eine Netzhaut­ab­lösung. Sondern eine steile Bahnhofs­treppe, ein zu enger Durchgang oder ein gut sicht­barer, aber kaum zu begrei­fender neuer Türöffnungsmechanismus.

Lächelnde Frau mit Sonnen auf Elektro-Rollstuhl beugt sich stark zur Seite, um unter einer Durchfahrsperre auf einem Waldweg durchzufahren.

Verren­kungen nötig: Der Kampf für mehr Barrie­re­freiheit stößt vielerorts auf Widerstände.

Dieser Wechsel der Blick­richtung von der körper­lichen zur baulichen Beein­träch­tigung ist nicht nur fair. Er ist auch sinnvoll, weil Behin­de­rungen, die für körperlich beein­träch­tigte Menschen relevant sind, sich in der Regel auch für viele andere Menschen negativ auswirken:

Eltern, die mit Kinder­wagen unterwegs sind. Kinder. Leute, die sich beim Sport das Bein verletzt haben. Menschen mit schwerem Gepäck. Fahrrad- oder Lasten­rad­fahrer, die auch mit der Bahn oder S‑Bahn fahren wollen. Und nicht zuletzt alte Menschen, die nicht mehr gut zu Fuß sind.

Sie alle können sich freuen. Denn in gut einem halben Jahr, am 01.01.2022 soll der gesamte öffent­liche Nahverkehr in Deutschland barrie­refrei gestaltet werden. Dies ist seit 2013 sogar rechtlich im Perso­nen­be­för­de­rungs­gesetz (PBefG) verankert worden. In § 8 Abs. 3 Satz 3 PBefG steht eine  Formulierung:

Der Nahver­kehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder senso­risch einge­schränkten Menschen mit dem Ziel zu berück­sich­tigen, für die Nutzung des öffent­lichen Perso­nen­nah­ver­kehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrie­re­freiheit zu erreichen.

Dass diese Zielvorgabe auf eine etwas gewundene Weise formu­liert ist, ist für entspre­chende Teilhabe- oder Leistungs­an­sprüche nicht untypisch. Eine genaue Lektüre zeigt, dass die in dem Satz formu­lierte Pflicht zunächst einmal die Ersteller des Nahver­kehrs­plans trifft. In den folgenden Sätzen kommen zudem einige Einschrän­kungen. Zum Beispiel, dass gemäß § 8 Abs. 3 S. 4 PBefG von der Frist abgewichen werden kann. Dafür müssen aber im Nahver­kehrsplan Ausnahmen konkret benannt und begründet werden.

Zudem erfordert der Planungs­prozess, die vorhan­denen Unter­nehmer frühzeitig zu betei­ligen. Angehört werden müssen auch Behin­der­ten­be­auf­tragte oder Behin­der­ten­beiräte, Verbände der in ihrer Mobilität oder senso­risch einge­schränkten Fahrgäste und Fahrgast­ver­bände. Die jewei­ligen Inter­essen sind im Planungs­prozess angemessen und diskri­mi­nie­rungsfrei zu berücksichtigen.

Durch diesen Recht­fer­ti­gungs­druck und die starke Einbe­ziehung von Stimmen, die für Barrie­re­freiheit sprechen, ist es in den letzten Jahren zu erheb­lichen Fortschritten gekommen. Zwar gibt es weiterhin Halte­stellen und Bahnhöfe, an denen Barrie­re­freiheit nicht gewähr­leistet ist. Aber das Verhältnis von Regel und Ausnahme hat sich auch hier so verändert, dass Öffent­licher Verkehr hoffentlich bald so zugänglich ist, wie sein Name seit jeher verspricht (Olaf Dilling).

2021-06-07T21:59:56+02:007. Juni 2021|Verkehr, Verwaltungsrecht|

Perso­nen­be­för­de­rungs­gesetz: Happy BerlKönig-Hour

Oft wird betont, dass die verstärkte Orien­tierung von Mobilität am Umwelt­verbund, also an öffent­lichen Perso­nen­nah­verkehr, Fahrrad- und Fußverkehr eine ziemlich exklusiv urbane Diskussion sei. Denn auf dem Land oder in den Vorstädten sei das Auto alter­na­tivlos. Auch die Innen­städte müssten sich weiter offen halten für Leute, die in ihrem Alltag auf den mobilen Indivi­du­al­verkehr angewiesen seien. Die müssten auch weiter mit dem Verkehr­mittel ihrer Wahl in die Stadt­zentren kommen.

Foto: JLudwig49, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Nun, mit der Wahlfreiheit der Verkehrs­mittel argumen­tieren in dem Zusam­menhang oft Politiker, die mit der Still­legung von regio­nalen Schie­nen­ver­bin­dungen und dem Einstellen von Buslinien bisher wenig Probleme hatten. Die Wahl reduziert sich in einer Markt­wirt­schaft manchmal halt auf die eine, einzig wirtschaft­liche Alter­native. Wobei geflis­sentlich darüber hinweg­ge­sehen wird, dass es auch um die Wirtschaft­lichkeit des Kraft­fahr­zeug­ver­kehrs vielerorts ganz anders bestellt wäre, wenn alle gesamt­ge­sell­schaft­lichen Kosten „einge­preist“ würden, wie Volks­wirte zu sagen pflegen.

Was bei der Diskussion über die Verkehrs­wende bisher vor allem zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass es auch auf dem Land sehr viele Menschen gibt, deren Mobili­täts­be­dürf­nisse sich nicht mit dem Kfz-Verkehr befrie­digen lassen. Dazu gehören Kinder und Jugend­liche, alte Menschen, die nicht oder nicht mehr Auto fahren können. Leute, die wegen körper­licher Einschrän­kungen oder aus gesund­heit­lichen Gründen nicht Auto fahren. Und Leute, aus Armut oder aus Überzeugung kein eigenes Auto haben. All diese Menschen sind bisher, soweit die Stecken sich nicht zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück­legen lassen, auf eine gute Versorgung mit öffent­lichem Verkehr angewiesen.

Aller­dings sind in den letzten Jahren neue Mobili­täts­an­gebote entstanden, mit denen sich die Lücke zwischen motori­siertem Indivi­du­al­verkehr und öffent­lichem Verkehr mögli­cher­weise schließen lässt. Bisher wurden sie vor allem in den urbanen Zentren auspro­biert, z.B. der BerlKönig im Zentrum von Berlin oder Clevers­huttle, die inzwi­schen in Düsseldorf ein sogenanntes Ridepooling betreiben. Das heißt, anders als Taxis werden die Fahrzeuge während einer Fahrt nicht exklusiv von einem Kunden genutzt, sondern über eine App werden die Mobili­täts­be­dürf­nisse mehrerer Kunden so gebündelt, dass der Fahrer sie sozusagen als flexible Fahrge­mein­schaften durch die Stadt fährt.

Bisher sind diese Angebote nur auf Grund einer Experi­men­tier­klausel in § 2 Abs. 7 Perso­nen­be­för­de­rungs­gesetz (PBefG) und nur bis zu einer Höchst­dauer von vier Jahren möglich. Aller­dings wird im März vom Bundestag mit Zustimmung des Bundes­rates eine Reform dieses Gesetzes verab­schiedet. Dadurch sollen die neu entstan­denen digitalen Sharing- und On-Demand-Dienste einen rechts­si­cheren Rahmen bekommen.

Was den BerlKönig angeht, hat sich gezeigt, dass der Anbieter die anfäng­lichen günstigen Preise auf Dauer nicht ohne Förderung durch das Land durch­halten kann. Daher ist die Zukunft dieses Angebots weiterhin ungewiss. Denn das Berliner Abgeord­ne­tenhaus hat sich bisher mehrheitlich dagegen ausge­sprochen, das Defizit zu übernehmen.

Das ist insofern nachvoll­ziehbar, als der BerlKönig bisher vor allem dort einge­setzt wird, wo auch bisher ein ausrei­chendes Angebot an öffent­lichem Verkehr besteht. Nämlich im Zentrum Berlins. Inter­essant sind diese Angebote weniger als Ersatz, denn als Ergänzung zum öffent­lichen Verkehr. An allen Orten und zu allen Zeiten, in denen der öffent­liche Linien­verkehr mangels ausrei­chender Nachfrage versiegt: In den Nacht­stunden mit einer BerlKönig-„Happy Hour“ und in den Bereichen der urbanen Peripherie der Vororte und branden­bur­gi­schen Schlaf­städte, in denen ein smarter, flexibler und kosten­güns­tiger Zubringer zum S‑Bahnnetz oft fehlt (Olaf Dilling).

 

2021-05-18T00:12:06+02:0018. Mai 2021|Verkehr|