Opportunitätsprinzip: Das zugedrückte Auge des Gesetzes?
Rechtsstaatlichkeit kann manchmal gnadenlos sein. Umgekehrt ist Gnade oft Ausdruck von Willkür, die dem Rechtsstaat fremd ist. Das gilt jedenfalls für das Strafrecht. Denn wo schwerwiegende Gesetzesverstöße verübt werden, kann der Staat nicht anders als einschreiten.
Bei Ordnungswidrigkeiten, also zum Beispiel Falschparken, aber aktuell auch Verstößen gegen Corona-Maßnahmen, ist das anders. Der Staat kann gegen die Rechtsverstöße vorgehen, muss dies aber nicht in jedem Fall. So besagt es das sogenannte Opportunitätsprinzip, das in § 47 Abs. 1 Satz 1 des Ordnungswidrigkeitsgesetzes (OWiG) verankert ist. Demnach liegt die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde.
Für manche Ordnungsbehörden ist das Opportunitätsprinzip eine feine Sache. Sie verstehen es in vielen Fällen sehr weit. Manchmal werden bestimmte Ordnungswidrigkeiten über längere Zeit gar nicht verfolgt. Zum Beispiel aufgesetztes Falschparken auf Gehwegen.
Bürger, die sich darüber aufregen und entsprechende Verstöße bei den Ordnungsbehörden anzeigen, werden mit dem Hinweis abgespeist, dass die Behörden gerade wichtigeres zu tun hätten. So ganz falsch ist das nicht. Denn genau das besagt das Opportunitätsprinzip: Dass die Behörden selbst entscheiden können, wie sie ihre (zumeist) knappen Ressourcen einsetzen, um Recht und Ordnung durchzusetzen.
Allerdings ist das Opportunitätsprinzip auch kein Freibrief für Willkür. Etwa, wenn immer nur bestimmte Menschen wegen Ordnungswidrigkeiten herangezogen werden und andere nicht. Oder wenn die vom Gesetzgeber beschlossenen Regeln gänzlich leer zu laufen drohen, weil jahrelang bestimmte Ordnungswidrigkeiten nicht verfolgt werden. Oder wenn per Runderlass eines Ministers oder Senators Regeln gesetzt werden, die geltendem Recht zuwider laufen. Das darf nicht sein, denn es geht ja, wie aus dem genannten § 47 OWiG hervorgeht, um pflichtgemäßes, nicht etwa um freies Ermessen.
In einer Entscheidung des Bayrischen Oberlandesgerichts vom vorletzten Jahr wurde das schön auf den Punkt gebracht:
Gerade bei der Verfolgung von massenhaft im Straßenverkehr begangenen Ordnungswidrigkeiten seien die vorhandenen gesetzlichen Vorbewertungen zu beachten. Daraus folge, dass es etwa eine Gleichheit im Unrecht und ein hieraus abgeleiteter Anspruch auf Nichtverfolgung und damit Nichtahndung auch im Verkehrsordnungswidrigkeitenrecht nicht geben könne.
Das zeigt, dass die oft geäußerte Vorstellung, dass Fehlverhalten von den Behörden geduldet werde, im Rechtssinne nicht zutreffend sein kann. Aber wie wir alle wissen, klaffen zwischen Rechtslage und Rechtswirklichkeit oft erhebliche Lücken (Olaf Dilling).