Verwal­tungs­ge­richt Bremen zur Ordnung des Fußverkehrs

 

Das Problem ist klar: Immer mehr und immer größere Kfz müssen sich in deutschen Städten den seit Jahren in etwa gleich bleibenden Platz teilen. Zugleich profi­tiert davon nur etwas über die Hälfte der Haushalte. Denn der andere Teil verzichtet inzwi­schen auf einen eigenen Pkw. Das Resultat ist zum einen, dass im Parkraum kaum noch Spiel­räume bestehen. Daher haben Liefer­verkehr, Pflege­dienste oder Handwerker kaum noch Möglich­keiten, flexibel vor Ort ihre Dienste zu verrichten. Zum andere drängen parkende Kfz in andere Bereiche des öffent­lichen Raums und parken z.B. rechts­widrig auf Gehwegen. Dadurch sind sie oft nur noch einge­schränkt nutzbar. Verfolgt und sanktio­niert wird das in vielen Städten kaum. Vielmehr hat sich vielerorts, jeden­falls unter Kfz-Haltern, eine Art „Konsens“ heraus­ge­bildet, dass dies schon seine Richtigkeit habe, denn „Wo soll man denn sonst parken?“.

SUV parkt auf Gehweg, so dass Passantin kaum noch vorbeikommt

In Bremen wurde dieser angeb­liche Konsens nun nachhaltig gestört. Durch eine Gruppe von Klägern aus mehreren Bremer Wohnstraßen, die auf ihr Recht pochen, die Gehwege auf vorge­sehene Weise, nämlich „per pedes“ zu benutzen. Und das auch in voller Breite oder – wie es in der Verwal­tungs­vor­schrift zur StVO heißt: „im ungehin­derten Begeg­nungs­verkehr“ auch mit Rollstühlen und Kinder­wagen. Oder um Kindern auf dem Weg zur Schule das Radfahren zu ermöglichen.

Geklagt haben sie nicht gegen die in Bußgeld­sachen untätige Polizei oder das Ordnungsamt. Das war insofern schlau, weil ähnliche Klagen bisher oft an dem sogenannten „Oppor­tu­ni­täts­prinzip“ im Ordnungs­wid­rig­kei­ten­recht gescheitert waren. Die für Bußgeld­ver­fahren zustän­digen Behörden haben bei Ordnungs­wid­rig­keiten anders als im Straf­recht einen Ermes­senspielraum. Denn die für die Verfolgung von Rechts­ver­stößen bereit­ste­henden Ressourcen sind knapp und ihr Einsatz muss priori­siert werden. Daher wandten sich die Kläger gleich an die Straßen­ver­kehrs­be­hörde. Diese solle geeignete Maßnahmen ergreifen, das syste­ma­tische Fasch­parken abzustellen.

Das VG hat den Kläge­rinnen und Klägern in einem sogenannten Beschei­dungs­urteil recht gegeben: Die Straßen­ver­kehr­be­hörde soll nun entlang der Rechts­auf­fassung des Gerichts nun prüfen, welche effek­tiven Maßnahmen dafür in Frage kommen. Grundlage für diese Entscheidung sind drei zentrale Erwägungen, die für freie Bürger­steige buchstäblich „bahnbre­chend“ werden könnten:

1) Neben Polizei- und Ordnungs­be­hörden ist auch die Straßen­ver­kehrs­be­hörde dafür zuständig, das syste­ma­tische Falsch­parken zu verfolgen. Außer dem Ausstellen von Bußgeld­be­scheiden kommen nämlich ein paar Möglich­keiten zusammen, für die die Straßen­ver­kehr­be­hörde zuständig ist: Zum Beispiel – neben der Polizei – für die Durch­setzung von Halte­ver­boten durch Abschleppen, für Auffor­de­rungen an die Fahrzeug­halter, ihre Kfz zu entfernen, gegebe­nen­falls für das Aufstellen von Verkehrs­zeichen oder ‑einrich­tungen.

2) Die Fußgänger haben ein subjek­tives, einklag­bares Recht, den Gehweg unbehindert zu nutzen. Dies eignet sich zugleich als Grundlage für Eingriffe der Behörden gegenüber den Falsch­parkern. Denn durch das Falsch­parken – so das VG – ist die Ordnung des Verkehrs gestört. Nicht nur die Ordnung des Kraft­fahr­zeug­ver­kehrs, wenn etwa Müllwagen oder Rettungs­fahr­zeuge nicht mehr durch die Straßen kommen. Sondern auch die Ordnung, genauer gesagt die Leich­tigkeit und Flüssigkeit, des Fußverkehrs.

3) Das Oppor­tu­ni­täts­prinzip und der grund­sätzlich bestehende Ermes­senspielraum der Straßen­ver­kehrs­be­hörde kann nicht dazu führen syste­ma­tische Regel­ver­stöße konse­quent zu ignorieren. Denn dies ist ein Ermes­sens­fehl­ge­brauch in Form des Ermes­sens­aus­falls, wie es auf Juris­ten­deutsch heißt. Mit anderen Worten die Verwaltung kann sich zwar in einzelnen Fällen dagegen entscheiden gegen Rechts­ver­stöße einzu­schreiten, aber sie darf sie nicht syste­ma­tisch dulden.

Die Entscheidung hat auch eine allge­meinere verfas­sungs­recht­liche Botschaft im Sinne von Rechts­staat­lichkeit und Demokratie: Für die Bundes­ge­setze und Verord­nungs­er­mäch­ti­gungen ist in der parla­men­ta­ri­schen Demokratie der Gesetz­geber zuständig. Es kann nicht an der Exekutive sein, geltendes Recht durch konse­quente Nicht­an­wendung zu unter­laufen (Olaf Dilling).

2022-02-23T20:26:23+01:0023. Februar 2022|Verkehr|

Oppor­tu­ni­täts­prinzip: Das zugedrückte Auge des Gesetzes?

Rechts­staat­lichkeit kann manchmal gnadenlos sein. Umgekehrt ist Gnade oft Ausdruck von Willkür, die dem Rechts­staat fremd ist. Das gilt jeden­falls für das Straf­recht. Denn wo schwer­wie­gende Geset­zes­ver­stöße verübt werden, kann der Staat nicht anders als einschreiten.

Bei Ordnungs­wid­rig­keiten, also zum Beispiel Falsch­parken, aber aktuell auch Verstößen gegen Corona-Maßnahmen, ist das anders. Der Staat kann gegen die Rechts­ver­stöße vorgehen, muss dies aber nicht in jedem Fall. So besagt es das sogenannte Oppor­tu­ni­täts­prinzip, das in § 47 Abs. 1 Satz 1 des Ordnungs­wid­rig­keits­ge­setzes (OWiG) verankert ist. Demnach liegt die Verfolgung von Ordnungs­wid­rig­keiten im pflicht­ge­mäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde.

Für manche Ordnungs­be­hörden ist das Oppor­tu­ni­täts­prinzip eine feine Sache. Sie verstehen es in vielen Fällen sehr weit. Manchmal werden bestimmte Ordnungs­wid­rig­keiten über längere Zeit gar nicht verfolgt. Zum Beispiel aufge­setztes Falsch­parken auf Gehwegen.

Bürger, die sich darüber aufregen und entspre­chende Verstöße bei den Ordnungs­be­hörden anzeigen, werden mit dem Hinweis abgespeist, dass die Behörden gerade wichti­geres zu tun hätten. So ganz falsch ist das nicht. Denn genau das besagt das Oppor­tu­ni­täts­prinzip: Dass die Behörden selbst entscheiden können, wie sie ihre (zumeist) knappen Ressourcen einsetzen, um Recht und Ordnung durchzusetzen.

Aller­dings ist das Oppor­tu­ni­täts­prinzip auch kein Freibrief für Willkür. Etwa, wenn immer nur bestimmte Menschen wegen Ordnungs­wid­rig­keiten heran­ge­zogen werden und andere nicht. Oder wenn die vom Gesetz­geber beschlos­senen Regeln gänzlich leer zu laufen drohen, weil jahrelang bestimmte Ordnungs­wid­rig­keiten nicht verfolgt werden. Oder wenn per Runderlass eines Ministers oder Senators Regeln gesetzt werden, die geltendem Recht zuwider laufen. Das darf nicht sein, denn es geht ja, wie aus dem genannten § 47 OWiG hervorgeht, um pflicht­ge­mäßes, nicht etwa um freies Ermessen.

In einer Entscheidung des Bayri­schen Oberlan­des­ge­richts vom vorletzten Jahr wurde das schön auf den Punkt gebracht:

Gerade bei der Verfolgung von massenhaft im Straßen­verkehr began­genen Ordnungs­wid­rig­keiten seien die vorhan­denen gesetz­lichen Vorbe­wer­tungen zu beachten. Daraus folge, dass es etwa eine Gleichheit im Unrecht und ein hieraus abgelei­teter Anspruch auf Nicht­ver­folgung und damit Nicht­ahndung auch im Verkehrs­ord­nungs­wid­rig­kei­ten­recht nicht geben könne.

Das zeigt, dass die oft geäußerte Vorstellung, dass Fehlver­halten von den Behörden geduldet werde, im Rechts­sinne nicht zutreffend sein kann. Aber wie wir alle wissen, klaffen zwischen Rechtslage und Rechts­wirk­lichkeit oft erheb­liche Lücken (Olaf Dilling).

2021-03-11T00:08:27+01:0011. März 2021|Verkehr|