An sich wollte die Regierung in Berlin für ein neues Mitein­ander im Verkehr eintreten. Ziel sollte eine Politik für alle Verkehrs­teil­nehmer sein. Nach mehr als zwei Jahren ist die Bilanz nicht bloß kümmerlich, sondern es wurde einseitig der Kfz-Verkehr gefördert. Insbe­sondere der Schutz vulnerabler Verkehrs­teil­nehmer wurde vernach­lässigt. Bereits fortge­schrittene Planungen für Radverkehr wurden gestoppt, Tempo 30 wurde zurück­ge­nommen, die Beruhigung von Quartieren durch Kiezblocks ausgebremst.

Nun galt zu Zeiten der Massen­mo­to­ri­sierung das Auto poten­tiell für alle Bürger als das Verkehrs­mittel der Wahl. In Berlin gibt es jedoch deutlich rückläufige Tendenzen: Mit Kfz werden nur noch gut 20% der Wege zurück­gelegt. Außerdem kamen im Jahr 2022 nur noch 319 Kfz auf 1000 Einwohner, wobei der Anteil im Stadt­zentrum geringer und in den äußeren und reicheren Bezirken wie Steglitz-Zehlendorf besonders hoch ist.

Dass zugunsten des Kfz-Verkehrs andere Verkehrs­be­lange gegen­ein­ander ausge­spielt werden, zeigt sich aktuell besonders deutlich in der östlichen Kantstraße in Charlot­tenburg: Dort soll ein seit einigen Jahren vorhan­dener Radfahr­streifen geopfert werden. Statt­dessen soll der bisher links des Radfahr­streifens liegende Parkstreifen verlegt werden. Auf dem freiwer­denden Streifen soll eine Busspur mit Freigabe für Radverkehr entstehen. Als Begründung dafür wird vor allem die Rettungs­si­cherheit angeführt, da die Feuerwehr beim Aufstellen der Rettungs­leiter bisher Schwie­rig­keiten hatte. 

Postkarte der Kantstraße von ca 1900 mit Hochbahn im Hintergrund und Straßenbahnschienen, zahlreichen Fußgängern und Radfahrern, aber ohne Kfz auf der Fahrbahn.

(Überwiegend Fuß- und Radverkehr, aber noch keine Probleme für die Feuerwehr: Kantstraße um 1900, Foto: Kunst­verlag J. Goldiner)

Nun hat ein geschätzter Anwalts-Kollege jüngst in einem Rechts­gut­achten für die Deutsche Umwelt­hilfe klarge­stellt, dass der Fahrradweg unver­zichtbar sei. Denn aufgrund des hohen Aufkommens von Radverkehr entspricht eine Führung im Misch­verkehr nicht den techni­schen Anfor­de­rungen (laut den Empfeh­lungen für Radver­kehrs­an­lagen, ERA). Auf dem voraus­sichtlich zu schmalen Busstreifen würden sich vielmehr beide Verkehr­arten gegen­seitig behindern, so dass entspre­chende Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs vorher­sehbar sind.

Dass der ruhende Kraft­verkehr aus der Abwägung dennoch als „lachender Dritter“ hervorgeht, ist bei näherer Betrachtung das Resultat eines falschen „Framings“, einer limitierten Auswahl der Handlungs­op­tionen bei der Ermes­sens­aus­übung. Denn die Rettungs­si­cherheit müsste an sich kein Grund dafür sein, den Radfahr­streifen abzuschaffen. Der Konflikt besteht nämlich gar nicht mit dem Radfahr­streifen, der sich so einrichten ließe, dass er für Rettungs­fahr­zeuge befahrbar ist. Das Problem für die Feuerwehr sind vielmehr die parkenden Autos. Das könnte entweder dadurch entschärft werden, dass der Parkstreifen ganz abgeschafft wird oder indem er auf die linke Fahrspur verlegt wird, also direkt an den Mittel­streifen, wo er ebenfalls der Feuerwehr nicht im Weg wäre.

Wenn die Berliner Verwaltung tatsächlich allen Verkehrs­arten gerecht werden will, muss die Abwägung daher nicht zwischen Gefahren aufgrund der Rettungs­si­cherheit und Gefahren für den Radverkehr erfolgen. Vielmehr geht es um eine umfas­sendere Abwägung zwischen Rettungs­si­cherheit sowie Verkehrs­si­cherheit einer­seits und den Belangen des ruhenden Verkehrs anderer­seits. Es liegt eigentlich auf der Hand, wie diese Abwägung am Ende ausgehen dürfte: Die Parkplätze müssen weichen.

Dafür muss man noch nicht mal in den viel zu selten beach­teten § 25 Berliner Mobili­täts­gesetz gucken. Dort heißt es unter der Überschrift „Bewäl­tigung von Konflikt­lagen bei der Umsetzung von Maßnahmen“ in Abs. 2 Nr. 3, dass der Vorrang des fließenden vor dem ruhenden Verkehr bei Abwägungs­ent­schei­dungen zu berück­sich­tigen ist. Das ist ein durchaus sinnvoller Grundsatz. Denn allzuoft müssen in Berlin Busse, Kfz und Radfah­rende warten, weil Parkplätze so angeordnet sind, dass die Fahrbahn verengt ist. Man könnte fast denken, dass den Kraft­fahrern und ihrem verlän­gerten politi­schen Arm die Parkplätze in Berlin wichtiger seien, als die Befahr­barkeit der Fahrbahnen. (Olaf Dilling)