Man kennt das im Internet: Irgendeine Seite, nehmen wir einfach Spiegel Online (SpOn), löscht einen Kommentar, und der Verfasser und seine Online­en­tourage wüten in den Folge­kom­men­taren herum. Das sei Zensur und ein Verstoß gegen die Meinungs­freiheit, und überhaupt: Danke Merkel!!!1!

Inzwi­schen hat sich herum­ge­sprochen, dass es so einfach nicht ist. Denn SpOn ist nicht der Staat. Die Grund­rechte, die haupt­sächlich in den ersten 19 Artikel des Grund­ge­setzes zu finden sind, richten sich deswegen nicht an SpOn, sondern an die Bundes­re­publik Deutschland und jeden, der sonst noch so in diesem Lande öffent­liche Gewalt ausübt.

Das hat in der Praxis ganz erheb­liche Bedeutung. Ich beispiels­weise darf einfach so unliebsame Meinungen unter­drücken, indem ich unpas­sende Kommentare hier einfach nicht freischalte. Damit verstoße ich nicht gegen die Meinungs­freiheit des Art. 5 Abs. 1 GG der Kommen­taren, und auch nicht gegen den Gleich­be­hand­lungs­grundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG, weil ich von zwei gleich unpas­senden Kommen­taren nur einen lösche und einen nicht.

Diese unter­schied­liche Verpflich­tungslage ist nicht nur gerecht­fertigt, weil der Staat sich mit dem GG selbst gebunden hat, wohin­gegen ich jeden­falls nicht mit am Tisch saß, als das GG verab­schiedet wurde. Vielmehr steht hinter den Grund­rechten – ich simpli­fi­ziere – auch die Vorstellung, dass der Staat mächtiger ist als der Bürger und deswegen beson­derer Bindungen bedarf. Wer bei mir ständig grundlos gelöscht wird, kann woanders das Beste über’s Energie­recht lesen. Während er, behandelt der Staat ihn grundlos schlechter als andere Leute, er sich schlecht einen neuen Staat suchen kann, zumindest, solange er nicht den Wohnort wechseln will.

Doch ganz so einfach ist die Sache natur­gemäß nicht. Der Staat steht schließlich nicht vollkommen unver­bunden neben der Gesell­schaft. Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) hat deswegen schon in den Fünfziger Jahren in der Entscheidung Lüth die sog. mittelbare Dritt­wirkung entwi­ckelt, nach der über die General­klauseln des Bürger­lichen Rechts die Grund­rechte auch auf die Auslegung zivil­recht­licher Normen ausstrahlen. Damit besteht eine oft komplexe Wechsel­wirkung zwischen Grund­rechten und einfachen Gesetzen. Im Wesent­lichen blieb es aber immer dabei: Der Staat ist unmit­telbar an Grund­rechte gebunden. Private dagegen nur mittelbar, was oft eben auch bedeutet: Im konkreten Fall nicht.

Doch wird diese Unter­scheidung der Wirklichkeit auch immer gerecht? Das Bundes­ar­beits­ge­richt (BAG) etwa hatte schon früh Zweifel. Schließlich ist Vater Staat nicht der einzige, der dem Bürger als überge­ordnete Macht gegen­über­tritt. Der Chef ist in vielen Fällen mindestens genauso mächtig wie das Bezirksamt. Oder nehmen wir Facebook: Wenn der kalifor­nische Riese jemanden sperrt, dessen Meinung ihm nicht passt, dann schränkt das die Äußerungs­freiheit als Teil der Meinungs­freiheit faktisch durchaus empfindlich ein.

Vor diesem Hinter­grund ist die Diskussion um Dritt­wirkung keineswegs ein toter Hund des Verfas­sungs­rechts. Vor einigen Jahren stellte das BVerfG in einer viel beach­teten Entscheidung (Fraport) klar, dass der Staat auch dann mittelbar (und damit voll und ganz) an die Grund­rechte gebunden ist, wenn er private Unter­nehmen gesell­schafts­rechtlich beherrscht. Aber gut, es ist eigentlich logisch, dass man seine Verpflich­tungen nicht los wird, nur weil man sich als Privat­person „verkleidet“.

Die Entscheidung des BVerfG vom 11.04.2018 bedeutet dem gegenüber aber noch einmal einen Quanten­sprung. In dieser Entscheidung ging es nämlich nicht um den Staat als Verpflich­teten. Sondern um einen höchst privaten Fußball­verein, den MSV Duisburg. In deren Stadion hatte sich der Beschwer­de­führer als Fan des FC Bayern München wohl ausge­macht schlecht benommen und dafür ein bundes­weites Stadi­on­verbot kassiert. Das geht, weil die Vereine der Bundesliga sich gegen­seitig zu solchen Verboten bevoll­mächtigt haben.

Nach klassi­scher Grund­rechts­lehre wäre das unpro­ble­ma­tisch. Der MSV kann sich – darauf hat er sich vor Gericht auch berufen – an sich ebenso aussuchen, wem er Zutritt gewährt wie ich. An das Gleich­be­hand­lungs­gebot des Art. 3 Abs. 1 GG sah der Verein sich deswegen nicht gebunden. Doch das BVerfG beurteilte die Lage anders.

Der MSV Duisburg, so das BVerfG, habe seine Veran­stal­tungen aus eigenem Entschluss für jedermann ohne Ansehen der Person geöffnet. Für Fußballfans entscheidet er bei Ausübung seines Hausrechts in erheb­lichem Umfang über die Teilnahme am gesell­schaft­lichen Leben. Sprich: Wenn der MSV beschließt, jemanden auszu­sperren, ist dessen Dasein als Fußballfan erst einmal vorbei. Schließlich gibt es ebenso wenig eine Alter­native zur Bundesliga wie zum Bezirksamt.

Aus einer solchen Situation, so das Gericht, resul­tiert eine besondere Verant­wortung. Die mittelbare Dritt­wirkung trifft den MSV deswegen viel, viel stärker als etwa mich. Ich kann  Menschen völlig grundlos nicht zu meinem Geburtstag einladen. Der MSV darf das bundes­weite Stadi­on­verbot nur mit einem sachlichen Grund aussprechen, also unter denselben Bedin­gungen wie der Staat. Aus der Notwen­digkeit eines solchen sachlichen Grundes leitet das BVerfG auch her, dass der MSV den Beschwer­de­führer hätte anhören müssen.

Im Ergebnis bekam der Beschwer­de­führer trotzdem nicht recht. Denn ein sachlicher Grund für das Stadi­on­verbot lag vor.

Die Auswir­kungen der Entscheidung gehen aber über Stadi­on­verbote oder ähnliche Großver­an­stal­tungen weit hinaus. Situa­tionen, in denen ein privates Unter­nehmen erst einmal beschließt, seine Dienste jedermann anzubieten, gibt es viele. Und es ist nicht ganz selten, dass diese dann in irgend­einem Lebens­be­reich für die Teilnahme am öffent­lichen Leben entscheidend sind. Nehmen wir eine abgelegene Klein­stadt, in der es nur noch einen einzigen ohne Kraft­fahrzeug erreich­baren Super­markt gibt. Oder WhatsApp, auf dessen Dienste zB viele Kollegien, Eltern oder Schüler­gruppen faktisch angewiesen sind, um noch an Nachrichten der Kitagruppe zu kommen. Von Facebook ganz zu schweigen.

Ob das BVerfG in solchen Konstel­la­tionen künftig eine Gleich­be­handlung anmahnt, solange kein sachlicher Grund eine Schlech­ter­stellung recht­fertigt, wird die Juristen sicherlich noch lange beschäftigen.