Dienen benutzungspflichtige Radwege der Flüssigkeit des Verkehrs?
Letztes Jahr gab es vom Oberverwaltungsgericht Niedersachsen eine spannende Entscheidung über die Benutzungspflicht von Radwegen. In dem Beschluss ging es um eine Zulassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg (Oberverwaltungsgericht Niedersachsen, Beschl. v. 09.07.2024, Az.: 12 LA 42/23). Ein Radfahrer hatten in Lüneburg gegen die Anordnung einer Radwegebenutzungspflicht für einen gemeinsam genutzten Geh- und Radweg geklagt. Die Straße war stark von Kfz befahren und zumindest auf dem Abschnitt, an dem der benutzungspflichtige Radweg verlief, war die Fahrbahn nur 2,50 m breit. Außerdem gab es wegen des zum Teil unübersichtlichen Straßenverlaufs keine Möglichkeit zu überholen. Daher hatte die Straßenverkehrsbehörde eine Benutzungspflicht angeordnet, um Stauungen auf der Kfz-Spur wegen langsam fahrender Fahrräder zu vermeiden.
Eine Begründung, die sich bisher so selten in Gerichtsentscheidungen zum Straßenverkehrsrecht fand. Typischerweise geht es bei den Gefahrenlagen nämlich um Gefahren für höherrangige Verfassungsgüter als die Fortbewegungsfreiheit, um Leben, Gesundheit und hohe Sachwerte. Aber warum eigentlich nicht? In § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO ist schließlich von Gefahren für die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs die Rede und aus dem Kontext der Norm erschließt sich, dass es um eine alternative Aufzählung geht. Das heißt es muss nicht immer beides verwirklicht sein.
Nun ist Justitias Schwert aber bekanntlich auf zwei Seiten scharf. Genauso ist es mit vielen rechtlichen Argumenten. Sind sie erst einmal zu Gunsten bestimmter Interessen etabliert, lassen sie sich in der Regel auch für ganz andere Interessen nutzbar machen. Schließlich ist Justitia blind und sollte demnach auch unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Glaube, sozialer Herkunft oder Befähigungen einer rechtsuchenden Person urteilen. Auch ob die Verkehrsteilnehmer, die in ihrer Freiheit beschränkt werden oder zu Gunsten derer Beschränkungen auferlegt werden, Kraftfahrende oder Radfahrende sind, sollte keine Rolle spielen. Was die Ausgewogenheit angeht, können einem bei dieser Entscheidung jedoch arge Zweifel aufkommen: Schließlich kann es nach der geschilderten Sachlage zwar sein, dass es auf der Fahrbahn zu Stauungen kommt, aber wie sieht es eigentlich auf dem gemeinsamen Geh- und Radweg aus?
Nach der Straßenverkehrsordnung (Anlage 2, zu § 41 Absatz 1, Vorschriftzeichen, Rn. 19) darf …
Bei der hohen Zahl von Radfahrern, die in dem zu entscheidenden Fall auf der Strecke unterwegs ist, ist das eine ganz erhebliche Einschränkung. Die Radfahrenden müssen also zu Stoßzeiten zwischen zu Fuß Gehenden Schritt Tempo fahren. Da ist es vermutlich besser, gleich abzusteigen. Eine Gefahr auf der Fahrbahn ist gebannt, aber teuer erkauft durch eine ebenso große (oder vielleicht sogar größere) Gefahr auf dem Sonderweg. Zumindest im Rahmen der Verhältnismäßigkeit hätte die Angemessenheit dieser Entscheidung geprüft werden müssen. Darüber hatte das Berufungsgericht aber offenbar nicht zu befinden. Möglicherweise hatte der Kläger oder sein Prozessvertreter versäumt, dies geltend zu machen.
Spannend ist der Fall zum einen, weil die Gerichte ein bisher so in diesen Fällen nicht gängiges Argument der Flüssigkeit des Verkehrs ins Spiel bringen. Zum anderen, weil die Flüssigkeit des Verkehrs, die als eigenständiger Schutzzweck thematisiert wird, einmal mehr für den Kfz-Verkehr geltend gemacht wird. Da unmotorisierte Verkehrsteilnehmer wie Fahrradfahrende oder zu Fuß Gehende aber nach den aktuellen Regeln sehr häufig auf den Kraftverkehr warten müssen, hat die stärkere Fokussierung auf die Flüssigkeit des Verkehrs auch eine potentiell sehr hohe Sprengkraft für die Verkehrswende.
Denn es kann nicht nur um den flüssigen Kraftverkehr gehen. Auch für den Radverkehr muss eine Infrastruktur mit angemessener Kapazität bereit gestellt werden, damit es nicht zu Stauungen an der Kreuzung kommt. Und auch wenn Kinder am Straßenrand lange warten müssen, dürfte dies nach der Logik dieser Rechtsprechung eine Gefahr für die Ordnung des Verkehrs darstellen. (Olaf Dilling)