Investitionsschiedsverfahren als Hemmnis der Energiewende
2011 hat die Bundesregierung nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima den endgültigen Atomausstieg beschlossen. Dieser hatte weitreichende Folgen. Neben der Entscheidung, bis 2022 das letzte Atomkraftwerk abzuschalten, zog diese umweltpolitisch begrüßenswerte Entscheidung auch einige Gerichtsverfahren nach sich. U.a. hatte das Bundesverfassungsgericht 2016 über eine Verfassungsbeschwerde von E.ON, RWE und Vattenfall zu entscheiden. In seinem Urteil erklärte das Bundesverfassungsgericht den Atomausstieg grundsätzlich für verfassungskonform, bemängelte jedoch das Fehlen einiger Schadensersatzregelungen.
Das juristische Nachspiel der politischen Entscheidung hatte damit aber noch nicht sein Ende. Vattenfall, ein schwedischer Staatskonzern, initiierte parallel zu der Verfassungsbeschwerde noch ein Schiedsgerichtsverfahren auf Basis des Energiecharta-Vertrages und verlangt in dem immer noch anhängigen Verfahren von der Bundesregierung 4,7 Milliarden Euro Schadensersatz. Bei dem Energiecharta-Vertrag handelt es sich um ein multilaterales völkerrechtliches Abkommen mit 53 Mitgliedern. Vertragsparteien sind neben allen EU-Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Italien), die EU sowie mehrere Drittstaaten.
Das von Vattenfall angestrengte Schiedsverfahren findet größtenteils unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Lediglich die Eingangs- und Schlussplädoyers der ersten Verhandlung sind als Video im Internet veröffentlicht. Die Verfahrensdokumente sind hingegen nicht zugänglich. Lediglich den Abgeordneten des Bundestages wurden Informationen zum Verfahrensstand in der Geheimschutzstelle des Bundestages zur Verfügung gestellt. Es ist daher auch nicht bekannt, auf welche Vorschriften des Energiecharta-Vertrages sich Vattenfall stützt.
Unabhängig von der Problematik, dass solche Schiedsverfahren – im Gegensatz zu innerstaatlichen Gerichtsverfahren – meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, stellt sich die Frage, ob es unionsrechtlich überhaupt zulässig ist, dass ein europäischer Investor einen anderen EU-Mitgliedstaat außerhalb des eigentlich vorgesehenen europäischen Rechtsrahmens auf Schadensersatz verklagt. Die Europäische Union bildet nämlich nicht nur – wie zu Beginn ihrer Existenz – eine Wirtschafts‑, sondern auch eine Rechts- und Werteunion. Wenn also ein vorrangiges europäisches Rechtssystem besteht, ein sog. Europäischer Gerichtsverbund, erscheint es durchaus fraglich, wenn EU-Mitgliedstaaten ihre Rechtsstreitigkeiten außerhalb dieses Rechtsrahmens austragen.
Im März 2018 hat sich der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Achmea mit der Frage der Zulässigkeit innereuropäischer Schiedsgerichtsverfahren auseinandergesetzt und festgestellt, dass eine völkerrechtliche Vereinbarung zweier Mitgliedstaaten, ein Schiedsgericht zu errichten, welches unter Umständen auch Unionsrecht anwendet und auslegt, gegen die Autonomie des Unionsrechts verstößt. Denn ein solches Schiedsgericht sei nicht nach Art. 267 AEUV vorlageberechtigt, sodass die Gefahr einer uneinheitlichen Auslegung des Unionsrechts bestünde. Wenn ein solches Schiedsgericht nicht nach Art. 267 AEUV dem ausschließlich für die Auslegung von Unionsrecht zuständigen Europäischen Gerichthof eine Frage zur Auslegung des Unionsrechts vorlegen könne, bestünde nämlich die Möglichkeit, dass dieses Gericht die entsprechende unionsrechtliche Vorschrift anders auslege, als sie der Europäische Gerichtshof auslegt. Hierin liegt eine Verletzung der Autonomie des Unionsrechts. Denn die Autonomie des Unionsrechts, welche sich daraus begründet, dass das Unionsrecht eine eigenständige Rechtsordnung ist, die in allen Mitgliedstaaten unmittelbar gilt und vor nationalem Recht Anwendung findet, wird gerade dadurch gewährleistet, dass das Unionsrecht einheitlich in allen Mitgliedstaaten Anwendung findet. Zudem wird auch der nach Art. 4 Abs. 3 EUV geltende Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dadurch beeinträchtigt, dass diese Streitigkeit den nationalen Gerichten entzogen werden.
Nun handelt es sich zwar im Gegensatz zu dem bilateralen Investitionsschutzvertrag zwischen der Slowakei und den Niederlanden in der Rechtssache Achmea bei dem Energiecharta-Vertrag um einen multilateralen Vertrag, sodass man annehmen könnte, dass die Grundsätze aus der Achmea-Entscheidung nicht übertragbar sind.
Allerdings dürften auf Schiedsverfahren auf der Grundlage des Energiecharta-Vertrages zwischen einem EU-Investor und einem anderen EU-Mitgliedstaat die gleichen Erwägungen zutreffen. Denn auch im Rahmen solcher Streitigkeiten besteht die Möglichkeit, dass Unionsrecht von dem Schiedsgericht angewandt und ausgelegt wird. Zudem ist auch ein Schiedsgericht nach dem Energiecharta-Vertrag kein nach Art. 267 AEUV vorlageberechtigtes Gericht. Damit besteht auch hier die Gefahr einer uneinheitlichen Anwendung des Unionsrechts und damit ein Verstoß gegen die Autonomie des Unionsrechts. Auch der zwischen den Mitgliedstaaten geltende Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit wird dadurch beeinträchtigt, dass diese Streitigkeiten von nationalen Gerichten auf Schiedsgerichte ausgelagert werden.
Allerdings scheint beim Energiecharta-Vertrag noch Art. 351 AEUV zu berücksichtigen zu sein. Hiernach finden völkerrechtliche Verträge zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten, die vor Beitritt zu der Europäischen Union geschlossen wurden (Altverträge), auch bei Verstoß gegen Unionsrecht ausnahmsweise vorerst weiterhin Anwendung. Ob Art. 351 AEUV tatsächlich greift, ist jedoch nicht ganz unproblematisch. Denn auf innereuropäische völkerrechtliche Verträge findet Art. 351 AEUV gerade keine Anwendung. Art. 351 AEUV ist daher nur dann anwendbar, wenn die Nichtanwendung des Energiecharta-Vertrages bei innereuropäischen Streitigkeiten auch Drittstaaten verletzt. Ein weiteres Problem ist, dass der Energiecharta-Vertrag nicht für alle Mitgliedstaaten ein Altvertrag ist. Fraglich erscheint daher, ob Art. 351 AEUV nur für einen Teil der Mitgliedstaaten gilt oder trotzdem einheitlich für alle. Ferner kann man sich im Hinblick auf die Kadi-I-Entscheidung des EuGH fragen, ob Art. 351 AEUV überhaupt bei einer Verletzung der Autonomie des Unionsrechts anwendbar ist. Denn der EuGH hatte in der Entscheidung festgestellt, dass Art. 351 AEUV „keinesfalls […] die Grundätze in Frage [stellen könne], die zu den Grundlagen der Gemeinschaftsordnung selbst gehören“. Hierzu zählt insbesondere der Schutz der Grundrechte.
Jedenfalls begründet Art. 351 Abs. 2 AEUV eine Pflicht der Mitgliedstaaten, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Unionsrechtsverletzung abzustellen. Dies stellt eine besondere Ausprägung der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten dar. Selbst wenn Art. 351 AEUV in Bezug auf das Schiedsverfahren Vattenfall gegen Deutschland Anwendung finden sollte, erscheint die Einleitung des Schiedsverfahrens seitens Vattenfalls ein Verstoß gegen die Loyalitätspflicht Schwedens zu sein. Denn schließlich ist Vattenfall ein schwedischer Staatskonzern. Schweden hätte damit den Unionsverstoß im konkreten Fall dadurch abstellen können, dass es seinen Einfluss auf Vattenfall geltend gemacht hätte und dadurch das vorliegende Schiedsverfahren verhindert hätte. Hierdurch wäre, wenn auch nicht grundsätzlich, zumindest im Einzelfall die Autonomie des Unionsrechts geschützt worden.
Internationale Schiedsverfahren erscheinen damit gerade im innereuropäischen Raum aufgrund des vorhandenen Rechtssystems nicht nur als überflüssiges Relikt, sondern zudem auch als Verstoß gegen die Autonomie des Unionsrechts. Gerade auch im Hinblick auf die mit dem europäischen Deal verfolgte europäische Energiewende erscheinen internationale Schiedsgerichtsverfahren zwischen EU-Mitgliedstaaten eher als Hemmnis der Energiewende denn als Instrument der Rechtssicherheit. Letztendlich gefährden die meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Verfahren die einheitliche Anwendung des Unionsrechts (Fabius Wittmer).