Wie kommen die eigentlich darauf? – Warum Karlsruhe über Europarecht entscheidet
Zum Urteil des BVerfG vom 5.05.2020
2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am vergangenen Dienstag über das Anleihenkaufprogramm PSPP der Europäischen Zentralbank (EZB) entschieden und dieses für – zumindest vorübergehend – unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Genauer gesagt hat das BVerfG festgestellt, dass Bundestag und Bundesregierung gegen das Demokratieprinzip verstoßen, da sie es unterlassen habe, geeignete Maßnahmen gegen das PSPP der EZB zu ergreifen. Zugleich stellte sich das BVerfG damit erstmalig gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).Wie aber kommt das BVerfG dazu, überhaupt über ein EU-Programm zu entscheiden?
Tatsächlich ist die Entscheidung des BVerfG durchaus Teil und vorläufiger Höhepunkt einer seit einigen Jahren andauernden Auseinandersetzung zwischen dem BVerfG und dem EuGH. Ursprung dessen war die Aussage des damaligen Präsidenten der EZB Mario Draghi im Jahre 2012, „to do whatever it takes to preserve the euro.“ Als Reaktion auf die Eurokrise kündigte er an, dass die EZB „innerhalb [ihres] Mandates alles Erforderliche tun werde, um den Euro zu erhalten.“ Hierzu sollten unter bestimmten Voraussetzungen in unbegrenzter Höhe Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten von dem Eurosystem erworben werden können.
Das Eurosystem besteht aus der EZB sowie den nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, welche den Euro als gemeinsame Währung haben.
Die Ankündigung dieses sog. Outright-Monetary-Programms (OMT-Programm) sollte sodann Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG werden. Die Beschwerdeführer waren nämlich der Ansicht, dass die Ankündigung des OMT-Programmes nicht mehr von dem Mandat der EZB, d.h. Währungspolitik zu betreiben, gedeckt sei. Zudem würde es gegen das im Unionsrecht geltende Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung (Art. 123 AEUV) verstoßen. Unter dem Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung ist – vereinfacht gesagt – das Verbot zu verstehen, dass weder die EZB noch die nationalen Zentralbanken den Mitgliedstaaten Kredite gewähren dürfen.
Historisch bedeutsam an diesem Verfahren war, dass das BVerfG das erste Mal dem EuGH eine Rechtsfrage zur vorherigen Entscheidung vorlegte. Das BVerfG versuchte dem EuGH in seinem Vorlagebeschluss zwar mit eindrücklichen Worten klar zu machen, dass es das OMT-Programm als unionsrechtswidrig ansieht, schloss sich jedoch letztendlich dem EuGH an, nachdem dieser das OMT-Programm der EZB für mit dem Unionsrecht vereinbar erklärt hatte.
Dem Urteil des BVerfG von vergangenem Dienstag liegt ein ähnlicher Sachverhalt zu Grunde. Auch hier hatte sich das BVerfG letztendlich wieder mit der Frage zu beschäftigen, ob und unter welchen Voraussetzungen die EZB ein Staatsanleihenkaufprogramm beschließen darf, ohne dabei gegen Unionsrecht zu verstoßen. Diesmal ging es allerdings nicht um das OMT-Programm, sondern um das sog. Public Sector Asset Purchase Programme (PSPP), im Rahmen dessen das Eurosystem auf Grundlage eines Beschlusses der EZB unter bestimmten Bedingungen vor allem Staatsanleihen aber auch andere Schuldtitel kauft.
Auch in dem jetzigen Verfahren hatte das BVerfG zunächst den EuGH angerufen und um Klärung der unionsrechtlichen Fragen gebeten. So wollte das BVerfG, wie schon im OMT-Verfahren, insb. wissen, ob das Anleihenkaufprogramm der EZB die Kompetenz der EZB überschreite und ob es gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstoße. Auch in dem diesem Urteil vorausgegangenen Vorlagebeschluss machte das BVerfG deutlich, dass es das jetzige PSPP der EZB für unionsrechtswidrig hält.
Der Europäische Gerichtshof kam jedoch wieder zu dem Schluss, dass das Anleihenkaufprogramm der EZB kompetenzgemäß ist und auch nicht gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung verstößt.
“Same procedure as last time” konnte man bis hierhin denken. Allerdings entschied das BVerfG nun entgegen den Ausführungen des EuGHs, dass das PSPP – zumindest teilweise – „offensichtlich“ unionsrechtswidrig und damit auch unvereinbar mit dem Grundgesetz sei. Bundestag und Bundesregierung hätten es unterlassen, geeignete Maßnahmen gegen das PSPP zu ergreifen.
1. Prozessualer Hintergrund der Entscheidung
Wie kommt es dazu, dass ein deutsches Verfassungsgericht – abweichend vom an sich zuständigen EuGH – über die Unionsrechtmäßigkeit von Handlungen europäischer Organe im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde, die an sich für die Überprüfung von Grundrechtsverletzungen vorgesehen ist, entscheidet?
Entsprechend der Europäischen Verträge ist allein der Europäische Gerichtshof für die Auslegung von Unionsrecht zuständig (Art. 267 AEUV). So wird gewährleistet, dass das Unionsrecht in allen Mitgliedstaaten einheitlich angewendet wird und letztendlich kein Flickenteppich dadurch entsteht, dass jeder Mitgliedstaat das Unionsrecht anders interpretiert. Die Urteile des EuGHs sind daher auch für die nationalen Gerichte bindend. Dies erkennt das BVerfG auch grundsätzlich an und betont daher ausdrücklich den Ausnahmecharakter der jetzigen Entscheidung.
Wie ist es vor diesem Hintergrund möglich, dass das BVerfG in seiner PSPP-Entscheidung letztendlich doch Unionsrecht abweichend vom Europäische Gerichtshof auslegt? Das BVerfG bedient sich hier einer besonderen Konstruktion, die es bereits in seinem Maastricht-Urteil im Jahre 1993 entwickelt hat. Das Unionsrecht gilt in Deutschland aufgrund des Zustimmungsgesetzes des Deutschen Bundestages zu den Europäischen Verträgen. Der Bundestag hat damit der Europäischen Union und ihren Organen die in den Europäischen Verträgen niedergelegten Kompetenzen übertragen und dadurch zugleich ermöglicht, dass das Unionsrecht auch in Deutschland ohne weiteres gilt. Dies sei aufgrund des in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG niedergelegten Demokratieprinzips allerdings nur zulässig, solange die Kompetenzen von vornherein festgelegt sind. Der Bundestag als unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ müsse alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen und dürfe daher nicht seine Entscheidungsbefugnisse derart auf die Europäischen Organe übertragen, dass diese sich selber weitere Kompetenzen geben können. Der Europäischen Union und ihrer Organe darf daher keine sog. Kompetenz-Kompetenz zustehen, d.h. die Kompetenz sich eigene Kompetenzen zu geben. Agieren die Organe der EU offensichtlich außerhalb ihrer Kompetenzen, so ist deren Handeln nicht mehr von der ursprünglichen Kompetenzübertragung durch den Bundestag gedeckt und kann daher auch keine innerstaatliche Wirkung beanspruchen.
Aufgrund dessen behält sich das BVerfG vor, zu prüfen, ob die Organe der Europäischen Union die ihr in den Verträgen eingeräumte Befugnisse offensichtlich überschreiten (sog. ultra-vires Kontrolle). Denn dann läge letztendlich ein Verstoß gegen das in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG verankerte Demokratieprinzip vor. Über diese Konstruktion ist es dem BVerfG, das an sich nur die Vereinbarkeit von Rechtsakten mit Verfassungsrecht prüfen kann, im Endeffekt möglich, sich auch – als Vorfrage – mit der Auslegung von Unionsrecht zu beschäftigen.
Damit dies auch im Rahmen der Verfassungsbeschwerde rügefähig ist, bedient sich das BVerfG einer weiteren Konstruktion. Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde sind nämlich nur Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte rügefähig. Beschwerdebefugt sind die Beschwerdeführer vorliegend aus dem grundrechtsgleichen Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Das Wahlrecht umfasst – vereinfacht gesagt – auch das Recht, dass der Bundestag noch etwas Wesentliches zu sagen hat. Daher ist das Wahlrecht auch dann verletzt, wenn der Bundestag der Europäischen Union die Kompetenz-Kompetenz übertragen würde bzw. die Organe offensichtlich außerhalb ihrer Zuständigkeiten handeln.
Auch hinsichtlich des mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Gegenstandes bedarf es einer gewissen Konstruktion. Der Beschluss der EZB über das PSPP kann nämlich nicht unmittelbar Gegenstand der Entscheidung des BVerfG sein, da Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde nur Akte der deutschen öffentlichen Gewalt sein können. Rechtsakte von Organen der Europäischen Union sind daher unmittelbar kein tauglicher Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde. Unmittelbarer Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist vorliegend vielmehr das Unterlassen von Bundestag und Bundesregierung, geeignete Maßnahmen gegen das PSPP zu ergreifen. Der Beschluss der EZB über das PSPP wird damit – zulässigerweise – mittelbar Gegenstand der Verfassungsbeschwerde.
2. Inhalt der Entscheidung
Aufgrund dieser rechtlichen Konstruktionen war es dem BVerfG sodann nur möglich von der Entscheidung des EuGHs abzuweichen, wenn es das Urteil des Gerichtshofs zunächst selbst als offensichtlich ultra-vires einstuft. Die Auslegung der Verträge seitens des EuGH müsse dafür „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar[…] und daher objektiv willkürlich“ sein.
Obwohl das BVerfG betont, gegen die Entscheidung des EuGHs erhebliche Bedenken zu haben, erklärt es die Entscheidung des Gerichtshofs lediglich in einem Punkt für ultra-vires. Dies liegt an dem zuvor skizzierten Prüfungsmaßstab des Verfassungsgerichts. Denn bloße rechtliche Bedenken reichen nicht aus. Es bedarf einer „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbaren“ Auslegung.
Die Frage, ob die EZB durch ihr Staatsanleihenkaufprogramm PSPP gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstößt, also letztendlich den Mitgliedstaaten hierdurch Kredite gewährt werden, sieht das BVerfG zwar kritisch, lässt aber letztendlich die Auslegung des Gerichtshofs gelten und sieht hierin keine offensichtliche Kompetenzüberschreitung des Gerichtshofs.
Lediglich die Entscheidung des EuGHs, dass die EZB im Rahmen ihrer Kompetenzen gehandelt habe, sieht das BVerfG bzgl. eines Teilaspekts – nämlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung – als offensichtlich ultra-vires.
Nach den Europäischen Verträgen ist die EZB nur dazu berechtigt, währungspolitische Maßnahmen zu ergreifen. Für wirtschaftspolitische Maßnahmen sind weiterhin die Mitgliedstaaten zuständig. Die EZB darf lediglich die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten unterstützen. Ob das Kaufen von Staatsanleihen aufgrund seiner wirtschaftspolitischen Effekte noch als Währungspolitik angesehen werden kann, ist auch unter Ökonomen äußerst umstritten. Der EuGH gewährt der EZB aufgrund ihrer Unabhängigkeit und der darin zum Ausdruck kommenden ökonomischen Expertise daher auch einen weiten Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Qualifizierung der Maßnahme. Letztendlich billigte der EuGH somit auch das Anleihenkaufprogramm, da es – entsprechend der Beurteilung der EZB – primär den Zweck habe, die Inflationsrate bei ca. 2 % zu halten. Bei der Gewährleistung einer stabilen Inflationsrate handelt es sich, was unstrittig ist, um einen währungspolitischen Zweck.
Im Rahmen der Kompetenzausübung ist jedoch nach den Europäischen Verträgen (Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 4 EUV) auch die Verhältnismäßigkeit zu wahren. D.h. „die Handlungen der Organe [müssen] geeignet [sein], die mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele zu erreichen, und [dürfen] nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung dieser Ziele geeignet und erforderlich ist.“
Diese Prüfung habe der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil in einer „methodisch nicht nachvollziehbare[n]“ Art und Weise vorgenommen, urteilte das BVerfG am vergangenen Dienstag, sodass das Urteil des Gerichtshofs in diesem Punkt offensichtlich ultra-vires sei.
Der Europäische Gerichtshof habe zwar eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen, allerdings klammere der Gerichtshof hierbei die tatsächlichen (wirtschaftspolitischen) Wirkungen des PSPP aus. Damit fehle es an einer an sich erforderlichen Abwägung des währungspolitisch verfolgten Ziels der Preisstabilität (Inflationsrate bei ca. 2 %) mit den tatsächlichen wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP. Dies sei methodisch nicht mehr vertretbar, da so der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz letztendlich ins Leere laufen würde.
Da das BVerfG bzgl. dieses Teilaspektes das Urteil des EuGHs für ultra-vires erklärt hat, konnte das Verfassungsgericht in einem zweiten Schritt prüfen, ob das PSPP der EZB tatsächlich nicht der von ihm geforderten Verhältnismäßigkeitsprüfung standhält. Das BVerfG kommt hier zu dem Schluss, dass es die Verhältnismäßigkeit nicht abschließend prüfen kann, da die EZB, soweit ersichtlich, überhaupt keine Abwägung vorgenommen habe. Es läge ein Abwägungs- und Darlegungsausfall vor, da die EZB sich nicht erkennbar mit einer Abwägung des währungspolitischen Zieles mit den mit dem PSPP zwangsläufig verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen auseinandergesetzt habe.
Wegen dieses Abwägungs- und Darlegungsausfalls sei daher auch das Anleihenkaufprogramm PSPP der EZB – zumindest vorübergehend – offensichtlich ultra-vires und damit verfassungswidrig.
Da das BVerfG kein Unionsrecht für nichtig erklären kann und auch keine Unionsorgane zu irgendwelchen Handlungen verpflichten kann, hat die Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz lediglich für deutsche Staatsorgane unmittelbare – und damit überschaubare – Folgen. Der Verstoß gegen das Grundgesetz liegt daher auch gerade in dem pflichtwidrigen Unterlassen von Bundestag und Bundesregierung, geeigneten Maßnahmen gegen die fehlende Verhältnismäßigkeitsprüfung seitens der EZB ergriffen zu haben. Folglich werden Bundestag und Bundesrat verpflichtet, soweit möglich auf die EZB einzuwirken, eine entsprechende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen. Die deutsche Bundesbank hat die Beschlüsse der EZB, an welche sie normalerweise selbst bei einer Kollision mit nationalem Recht gebunden ist, unangewendet zu lassen und darf nicht an deren Umsetzung und Vollzug mitwirken. Dies gelte aber nur dann, wenn die EZB nicht innerhalb von drei Monaten die erforderliche Abwägung nachholt. Das BVerfG gewährt der EZB insoweit eine Frist zur Heilung des vorgefundenen Verstoßes. Dass die EZB innerhalb von drei Monaten eine entsprechende Abwägung nachliefern wird, ist zu erwarten. Abzuwarten bleibt allerdings, ob dem Verfassungsgericht die Abwägung genügen wird, wenn es erneut zur Überprüfung angerufen werden sollte.
3. Unmittelbare Folgen des Urteils
Mit der Entscheidung von vergangenem Dienstag hat das BVerfG erstmalig eine Entscheidung des EuGHs partiell für ultra-vires erklärt und damit die grundsätzlich bestehende Bindungswirkung des vorangegangenen Urteils des EuGHs teilweise verneint. Es hat damit zum ersten Mal tatsächlich von den in seiner Maastricht-Entscheidung aufgestellten Grundsätzen für die Unbeachtlichkeit von Unionsrecht Gebraucht gemacht.
Der Europäische Gerichtshof hat auf das Urteil des BVerfG mit einer knappen und nüchternen Pressemitteilung reagiert, in welcher er auf die Bindungswirkung von Urteilen des EuGHs für nationale Gerichte hinweist. Nur so werde „die Gleichheit der Mitgliedstaaten in der von ihnen geschaffenen Union gewahrt.“ Die Europäische Kommission prüft zudem momentan, ob sie diesbezüglich rechtliche Schritte gegen Deutschland, wie zum Beispiel ein Vertragsverletzungsverfahren, einleiten wird (Fabius Wittmer).