Warum lassen sich sichere Geh- und Radwege kaum einklagen?

Immer wieder erreichen uns Anfragen von Eltern oder Betreuern von Menschen mit Bewegungs­ein­schränkung mit folgender Frage: Was lässt sich eigentlich machen, wenn Kinder oder Senioren im Alltag Verkehrs­ge­fahren ausge­setzt sind? Das zugrunde liegende Problem ist der Mangel an sicherer Infra­struktur für Rad- und Fußverkehr. Entgegen allen Vorur­teilen, dass Verkehrs­wende nur was für elitär-alter­native Stadt­be­wohner sei, betrifft dies sowohl Großstädte wie Berlin oder Bremen als auch Gemeinden im ländlichen Raum. 

Auf dem Land fehlen Geh- und Radwege oft gänzlich. Gerade in gebir­gigen Orten müssen Kinder oder Senioren mit Gehhilfen zwischen parkenden Autos schmale, kurvige, oft schlecht beleuchtete Fahrbahnen benutzen. Auf Landstraßen müssen Kinder am Fahrbahnrand zur Schule laufen, ohne dass die Geschwin­digkeit entspre­chend einge­schränkt wird.

In der Stadt gibt es an Straßen mit mehreren Fahrstreifen oft keine sicheren Querungs­mög­lich­keiten, so dass lange Umwege in Kauf genommen werden müssen. Radwege oder geschützte Radfahr­streifen fehlen an Haupt­ver­kehrs­achsen. In Wohnstraßen sind vorhandene Gehwege zugeparkt. Menschen mit Rollstuhl oder Kinder auf Fahrrädern können sie daher nicht nutzen und müssen auf die Fahrbahn ausweichen. Dies führt an manchen Stellen regel­mäßig zu Konflikten durch ungeduldige Autofahrer, die dann die Menschen auf der Fahrbahn bedrängen und beleidigen.

Ghostbike in Frankfurt-Nied (Foto: Wikita­risch, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons)

Straßen­ver­kehrs­be­hörden lehnen in solchen Fällen oft ab, tätig zu werden oder lassen Anfragen gleich unbeant­wortet. Wenn sich Betroffene dann an uns wenden, dann müssen wir sie darüber aufklären, dass die Chancen vor Gericht gering sind. Im Übrigen lassen sich die Kosten eines Verfahrens in der Regel nur mit viel Idealismus oder einer solida­ri­schen Finan­zierung durch Nachbarn und andere Eltern in Kauf nehmen.

Warum sind die Chancen vor Gericht eigentlich so schlecht? Schließlich dringen auch Kfz-Fahrer immer wieder mit ihren Anliegen vor Gericht durch und können Maßnahmen der Behörden erfolg­reich anfechten.

Es gibt dafür unter­schied­liche Gründe, aber der wichtigste Grund liegt in der Struktur des Straßen­ver­kehrs­rechts und seines Verhält­nisses zum Straßenrecht:

Das Straßen­recht setzt im Prinzip den Rahmen, innerhalb dessen sich der Verkehr und die Verkehrs­re­gelung bewegen kann. Im Straßen­recht haben Kommunen oder andere Träger der Straßen­baulast eine relativ große Gestal­tungs­freiheit. Wie viel Platz eine Gemeinde bei Planung und Bau von Gemein­de­straßen und Plätzen dem Kfz-Verkehr und wie viel sie dem Fuß- und Radverkehr zur Verfügung stellt, ist ihr weitgehend selbst überlassen. Dies ist jeden­falls dann so, wenn sie bei der Neuanlage gewisse Mindest­stan­dards einhält. So ergibt sich etwa für die Mindest­breite von Fahrbahnen oder Sonder­wegen aus den techni­schen Regel­werken der Forschungs­ge­sell­schaft für Straßen- und Verkehrs­wesen (FGSV). Aus guten Gründen können Stadt­planer auch davon in Einzel­fällen abweichen, da die Regel­werke nicht rechts­ver­bindlich sind. Auch nachträglich lässt sich übrigens auf Grundlage des Straßen­rechts rechtlich relativ unkom­pli­ziert ein Bordstein verlegen, z.B. für sogenannte Gehweg­vor­stre­ckungen, um Querungen sicherer zu machen oder auf einer Sperr­fläche eine Verkehrs­insel anlegen.

Straßen­recht­liche Klagen Einzelner auf Bau eines Geh- oder (Hochbord-)Radwegs oder Einrichtung einer Fußgän­gerzone werden jedoch regel­mäßig an der Klage­be­fugnis scheitern. Das Straßen­recht betrifft Fragen begrenzter Ressourcen und die plane­rische Gestaltung des öffent­lichen Raums, die kommu­nal­po­li­tisch zur Dispo­sition stehen sollen. Es ist daher nachvoll­ziehbar, wenn sie kaum mit indivi­du­ellen Ansprüchen erzwungen werden können.

Doch auch das Straßen­ver­kehrs­recht gibt nicht-motori­sierten Verkehrs­teil­nehmern kaum Möglich­keiten: Wenn die Straße erst einmal baulich einge­richtet und gewidmet ist, dann kann zugunsten des Rad- und Fußver­kehrs zwar immer noch der Verkehr durch Verkehrs­zeichen und ‑einrich­tungen geregelt werden. Das betrifft z.B. die Anordnung von geschützten Radfahr­streifen, Fußgän­ger­über­wegen oder Baken, die Fußgänger schützen.

Nach der Logik der StVO haben die Behörden da aber – auch nach der Reform der StVO – nur geringe Spiel­räume. Denn weiterhin soll der fließende Verkehr nur ausnahms­weise einge­schränkt werden, selbst bei Erleich­te­rungen von der „quali­fi­zierten Gefah­renlage“ nur dann, wenn eine Maßnahme gemäß § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO „zwingend erfor­derlich“ ist und einer Gefahr nicht bereits durch die allge­meinen Regeln der StVO begegnet wird. Da diese Regeln, etwas bei der Vorfahrt oder Benutzung der Fahrbahn, Fußverkehr syste­ma­tisch benach­tei­ligen, müssen Erleich­te­rungen hart erkämpft werden:

Bei straßen­ver­kehrs­recht­lichen Klagen geht es Fußgängern oder den Eltern radfah­render Kinder typischweise darum, Behörden zu Maßnahmen zu verpflichten. Das unter­scheidet sie von Autofahrern, die gegen Verkehrs­be­schrän­kungen oder ‑verbote klagen oder auch von Radfahrern, die gegen die Anordnung der Benut­zungs­pflicht eines Radweges vorgehen. Diese Verpflich­tungs­klagen sind in zweierlei Hinsicht anspruchs­voller als Klagen, mit denen eine belas­tende Maßnahme angefochten wird:

  • Zum einen ist die Klage­be­fugnis in der Verpflich­tungs­kon­stel­lation nur dann gegeben, wenn die Rechtsnorm, auf die sich die Kläger berufen, eine Schutz­wirkung entfaltet. Die Norm darf dabei nicht bloß dem Schutz der Allge­meinheit dienen, sondern einer bestimmten, indivi­dua­li­sier­baren Gruppe von Berech­tigten. Im Verkehrs­recht sind das typischer­weise bloß die Anlieger einer Straße oder andere Personen, die zwingend darauf angewiesen sind, genau diesen Straßen­ab­schnitt zu nutzen. Nur dann kann ein Verkehrs­teil­nehmer seinen Anspruch vor Gericht verfolgen – und er ist auch nur darauf gerichtet, dass die Behörde ihr Ermessen pflicht­gemäß und unter Berück­sich­tigung der recht­lichen Grenzen ausübt.
  • Das heißt, zum anderen wiederum, dass der „objektive“ Nachweis möglich sein muss, dass eine konkrete Gefahr besteht, aufgrund derer die Straßen­ver­kehr­be­hörde eingreifen musste. Dabei kann die Behörde unter verschie­denen Maßnahmen wählen. Nur wenn alle anderen Maßnahmen ungeeignet sind (oder stärker in Rechte Dritter eingreifen) kann das Gericht zur vom Kläger gewünschten Maßnahme verpflichten.

Tl;dr: Die Regeln des Verkehrs­rechts sind primär für den Kraft­fahr­zeug­verkehr gemacht. Jede Verbes­serung und Erleich­terung für den nicht-motori­sierten Verkehr wird aus verkehrs­recht­licher Sicht daher als „Beschränkung“ oder „Verbot“ geframed, das begrün­dungs­be­dürftig ist. Die Reform der StVO hat zwar Kommunen und Behörden größere Spiel­räume gegeben, was grund­sätzlich zu begrüßen ist. Deswegen lassen sich Maßnahmen zugunsten des Fuß- und Radver­kehrs jedoch nicht unbedingt besser rechtlich erzwingen. Dies ist dann ein Problem, wenn Kommunen oder Behörden nicht willens und in der Lage sind, die Verkehrs­si­cherheit ihrer eigenen Bürger zu gewähr­leisten. (Olaf Dilling)

2025-10-09T14:28:03+02:009. Oktober 2025|Verkehr|

Rettung über den Radfahrstreifen

Radfahr­streifen und andere Maßnahmen der Verkehrs­wende haben zunehmend schlechte Presse, da sie angeblich die Rettungs­si­cherheit, Polizei und Feuerwehr beein­träch­tigen würden. Ist das tatsächlich in dieser Allge­meinheit zutreffend? Könnte die Zurück­drängung des Kfz-Verkehrs in den Städten nicht vielmehr dazu beitragen, freie Bahn für Einsatz­kräfte zu schaffen? Schließlich sind es oft Kraft­fahr­zeuge, die im Weg stehen, sei es, weil sie sich stauen und keine Rettungs­gasse gebildet wird oder werden kann, sei es, weil illegal parkende Kfz Feuer­wehr­ein­fahrten, Kurven oder enge Fahrbahnen blockieren.

Rettungswagen auf der Busspur

Bus- oder Radfahr­streifen: Beides könnte sich für Rettungs­fahr­zeuge eignen, um Staus zu umfahren.

Was Radfahr­streifen oder Fahrrad­straßen angeht, ist sowohl rechtlich als auch technisch Einiges möglich, was die Reakti­ons­zeiten der Rettungs­kräfte nicht beein­trächtigt oder sogar verbessern kann:

Grund­sätzlich dürfen Polizei und Feuerwehr aufgrund des § 35 Abs. 1 StVO von ihren Sonder­rechten Gebrauch machen, wenn es zur Erfüllung ihrer hoheit­lichen Aufgaben dringend erfor­derlich ist. Entspre­chendes gilt gemäß § 35 Abs. 5a StVO für Rettungs­fahr­zeuge, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschen­leben zu retten oder schwere gesund­heit­liche Schäden abzuwenden. Sie sind dann von den Vorschriften der StVO befreit und können daher auch Sonderwege benutzen, die für den Kfz-Verkehr nicht vorge­sehen sind. Nach § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO haben alle anderen Verkehrs­teil­nehmer sofort Platz zu schaffen, wenn dies durch das blaue Blink­licht der Einsatz­fahr­zeuge signa­li­siert wird. Dies gilt selbst­ver­ständlich auch für Fahrradfahrer.

Ob es auch technisch möglich ist, hängt davon ab, wie der Radfahr­streifen oder die Fahrrad­straße ausge­staltet ist. Bei schma­leren Radfahr­streifen, die noch nach dem Regelmaß von 1,85 m der Empfeh­lungen für Radver­kehrs­an­lagen (ERA) der FGSV geplant sind, ist eine Benutzung durch Rettungs­fahr­zeuge in der Regel nur dann möglich, wenn sie nicht durch bauliche Maßnahmen, insbe­sondere Poller, geschützt sind oder diese überfahrbar gestaltet sind. Letzteres setzt voraus, dass die Schwel­lenhöhe acht Zenti­meter nicht überschreitet. Da Fahrräder aufgrund ihrer wesentlich gerin­geren Platz­be­darfs flexibler aus dem Weg geräumt und notfalls auf den Bürger­steig geschoben werden können, bringt ein ungeschützter (oder mit überfahr­baren Schwellen geschützter) Radfahr­streifen an schmalen Fahrbahnen gegenüber einem weiteren Kfz-Streifen oft sogar einen Vorteil für die Rettungssicherheit.

Weiterhin ist es natürlich auch möglich, dass Radver­kehrs­in­fra­struktur so breit geplant wird, dass sie zugleich auch Rettungs­fahr­zeugen Platz bietet. Dies ist insbe­sondere bei Fahrrad­straßen sowie Zweirich­tungs-Radwegen im Regelmaß der Fall. Gegenüber Straßen, die vom Durch­gangs­verkehr genutzt werden und in denen es leicht zu Staus kommt, bieten sie Rettungs­fahr­zeugen oft bessere Bedin­gungen. Voraus­setzung ist jedoch, dass die Durch­fahrts­sperren auf eine Weise gestaltet sind, dass Rettungs­ein­sätze nicht behindert werden, etwa durch Poller, die sich fernge­steuert herun­ter­fahren lassen.

Außerdem ist es inzwi­schen  rechtlich keineswegs mehr zwingend, dass für den Radverkehr nur Restflächen zur Verfügung stehen, die für den Kfz-Verkehr nicht gebraucht werden. Denn inzwi­schen können gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 b) StVO auch aus Gründen des Umwelt- und Gesund­heits­schutzes und zur Förderung der städte­bau­lichen Entwicklung angemessene Radver­kehrs­flächen angeordnet werden, die zugleich in Notfällen als Rettungsweg dienen können. Radfahr­streifen müssten dafür mindestens drei Meter lichte Breite aufweisen, also breiter gebaut werden, als es die bisherige Regel­breite der ERA verlangt. Ohnehin ist die ERA durch die E Klima 2022 dahin­gehend modifi­ziert worden, dass die Regel­breiten nunmehr als Mindest­breiten zu verstehen sind.

Einen entspre­chenden Vorschlag zur Ertüch­tigung von Radfahr­streifen an neural­gi­schen Straßen­ab­schnitten als sogenannten „Berlin Rescue Lanes“ hat die Fraktion der Grünen im Berliner Abgeord­ne­tenhaus vorge­schlagen. Angesichts der häufigen Probleme von Rettungs­fahr­zeugen angesichts von Staus, erscheint das ein sinnvoller Vorschlag, der zeigt, dass Verkehr­wende und Rettungs­si­cherheit sich mit ein bisschen gutem Willen keineswegs ausschließen müssen. (Olaf Dilling)

 

2025-10-01T16:49:14+02:001. Oktober 2025|Verkehr|

VG Hannover: Kommunen können Gehwege freiräumen

Das Parken auf dem Gehweg vor dem eigenen Haus hat in Reihen­haus­sied­lungen gefühlt Grund­rechts­status. Aber wie ist es, wenn dadurch der Gehweg so verengt wird, dass das Passieren mit Zwillings­kin­der­wagen oder das Befahren mit Rollstühlen nicht mehr oder nur noch einge­schränkt möglich ist?

Schilderwald aufgesetztes Parken in Lübeck

Lübeck – beidseitig aufge­setztes Parken mit Baustel­len­be­schil­derung (Foto: A. Dilling)

Das Verwal­tungs­ge­richt Hannover hat mit Urteil vom 23.09.2025 (Az. 7 A 5302/23) über einen Fall entschieden, in dem die Straßen­ver­kehrs­be­hörde in einer Straße mit Reihen­häusern das halb aufge­setzte Parken untersagt und ein Haltverbot angeordnet hat. Die Rest-Gehweg­breite hatte 1,10 – 1,20 m betragen, so dass die Gehwege für mobili­täts­ein­ge­schränkte Personen nur mit erheb­lichen Behin­de­rungen nutzbar seien. Durch das einseitige Haltverbot konnte auch der andere Gehweg von parkenden Autos befreit werden, die nun am Fahrbahnrand parken sollen.

Der Kläger war der Auffassung, dass es keinen Bedarf gab, die seit 1966 bestehende Parkre­gelung zu ändern. Die StVO sehe keine Mindest­breite für Gehwege vor, das Verkehrs­auf­kommen sei gering und die Behörde habe sich nicht umfassend mit alter­na­tiven Vorge­hens­weisen auseinandergesetzt.

Das Gericht hat die Klage abgewiesen, da es keinen Anspruch auf einen öffent­lichen Parkplatz gäbe. Die Neure­gelung sei in Anbetracht der örtlichen Gegeben­heiten und der geringen Gehweg­breite nicht zu beanstanden. Nur so sei gewähr­leistet, dass ausrei­chend Platz und Bewegungs­spiel­räume für die Feuerwehr auf der Fahrbahn bleiben sowie für mobili­täts­ein­ge­schränkte Personen und kleine Kinder, die den Gehweg mit dem Fahrrad nutzen.

Auf diese aktuelle Entscheidung hat mich der Geschäfts­führer der Arbeits­ge­mein­schaft Fahrrad­freund­licher Kommunen Bremen/Niedersachsen auf der von ihr organi­sierten Fußver­kehrs­tagung in Verden an der Aller hinge­wiesen. Dort habe ich über die Möglich­keiten der Kommunen zur Förderung des Fußver­kehrs bei der Anwendung der refor­mierten StVO vorge­tragen. Auf der Konferenz gab es spannende Vorträge und eine Exkursion zum Thema Sicher­heits­audit, die Gelegenheit bot, die Probleme auf der Straße anzuschauen und zu disku­tieren. Ich freue mich über den produk­tiven Austausch. (Olaf Dilling)

2025-09-26T11:19:34+02:0026. September 2025|Rechtsprechung, Verkehr|