Mitein­ander im Verkehr? Vom Sinn und Unsinn der Regeln im Straßenverkehr

Ordnung muss sein“, das wusste schon Hausmeister Krause. In Deutschland werden Regeln groß geschrieben, gerade im Straßen­verkehr. Es gibt unzählige Regeln. Allein amtliche Verkehrs­zeichen gibt es ca 500, in allen Varia­tionen sind es eine Vielzahl davon. Selbst Anwälte wie wir, die sich schon eine Weile mit Verkehrs­recht beschäf­tigen, lernen oft noch was dazu. Vor allem wissen sie aus bitterer Erfahrung, dass die Regel­kennt­nisse bei Polizei und Behörden oft auch zu wünschen übrig lassen. Geschweige denn bei den Verkehrs­teil­neh­menden selbst. Für Anwälte kann das eine Chance sein, wenn sie sich auf Regeln berufen, die gerichts­be­kannt sind, aber von der Verwaltung schlichtweg ignoriert werden, wie etwa in einem Bremer Fall, in dem ein Kollege erfolg­reich einen Aktivisten verteidigt hat, der sein Kfz ganz legal auf der Fahrbahn geparkt hatte, obwohl alle – inklusive der Polizei – meinten, man müsse auf dem Gehweg parken.

Nun haben Regel oft ihren Sinn. Sie geben Orien­tierung bei den täglichen Koordi­na­ti­ons­leis­tungen, die im Verkehr erfor­derlich sind, überall wo viele Menschen zusam­men­kommen und ihre Wege sich kreuzen. So zumindest in der Theorie. In der Praxis führen Regeln oft mehr zu Konflikten, als dass sie diese lösen, insbe­sondere, wenn Regeln um ihrer selbst willen angewendet werden.

Um ein Beispiel zu geben: Ich war früher viel zu Fuß und seit einigen Jahren häufig auch als Radfahrer in Berlin unterwegs. Was mir auffällt, ist dass Menschen auf dem Rad und zu Fuß sich häufig in die Quere kommen, ohne dass dabei die geltenden Verkehrs­regeln beachtet werden. Übrigens sind es dabei nach meiner Wahrnehmung und entgegen gängigen Klischees keineswegs immer die Radfah­renden oder Leute auf E‑Rollern, die dabei gegen Regeln verstoßen. In Berlin Mitte sind es oft eher Menschen, die zu Fuß die Straße auch dann queren, wenn dort gerade Radler unterwegs sind. Ich rege mich darüber inzwi­schen kaum noch auf. Denn eigentlich ist es immer möglich, um die Leute so rumzu­kurven, dass niemand zu Schaden kommen kann. Voraus­setzung dafür ist, dass alle ein bisschen langsamer und vorsich­tiger unterwegs sind und aufein­ander achten. So wie es das Gebot der ständigen Vorsicht und gegen­sei­tigen Rücksicht­nahme in § 1 StVO ohnehin verlangt.

Übrigens ist nicht gesagt, dass es in Gesell­schaften, in denen der Straßen­verkehr weniger durch Regeln als durch konkrete Aushand­lungs­pro­zesse bestimmt ist, gefähr­licher zugeht. Als ziemlich chaotisch gilt für europäische Verhält­nisse der Verkehr in Napoli. Wenn man aber die Unfall­zahlen dort mit denen im nordita­lie­ni­schen Milano vergleicht, gibt es keine auffal­lenden Unter­schiede. Bei Youtube finden sich Videos vom Verkehr in Vietnam, bei denen einem schwindlig wird, ob des Gewusels an Vespas, die trotz offen­barer Regel­lo­sigkeit nicht kolli­dieren. Fußgänger gibt es dort auch, aber sie müssen häufig warten oder stürzen sich mutig ins Getümmel, in der Hoffnung lebend über die Straße zu kommen. In Japan gibt es die berühmte Shibuya-Kreuzung, an denen Menschen mühelos anein­ander vorbei­laufen, ohne zusammenzustoßen.

An dieser Kreuzung zeigt sich ganz offenbar, dass die meisten der zahlreichen Verkehrs­regeln ausschließlich nötig geworden sind, weil Menschen in großen, schweren und schnellen Kraft­fahr­zeugen unterwegs sind. Insbe­sondere die Vorfahrts­regeln sind weitgehend unnötig oder sogar hinderlich, wenn es darum geht, den nicht-motori­sierten Verkehr auf flüssige Weise zu koordi­nieren. Ebenso müsste es ohne Autos auch keine Verkehrs­ampeln geben, an denen Menschen viel ihrer Lebenszeit verlieren.

Gerade weil Verkehrs­regeln oft keinen Mehrwert bringen, plädieren viele Verkehrs­planer für „Shared Space“. Das sind Zonen, in denen der Verkehr nicht durch Verkehrs­zeichen geregelt wird und die Verkehrs­teil­nehmer sich selbst koordi­nieren sollen. Aller­dings funktio­niert das (jeden­falls in Deutschland, wo die Menschen an Regeln gewöhnt sind) nur in engen Grenzen:

  • wenn Leute sich kennen (kein Durchgangsverkehr),
  • wenn Leute anwesend sind (kein ruhender Verkehr) und
  • wenn es um Leute geht, die nicht in ihrer Wahrneh­mungs- und Kommu­ni­ka­ti­ons­fä­higkeit einge­schränkt sind (erheb­liche Nachteile z.B. für blinde Menschen).

Auch für kleine Kinder, die das Verhalten im Verkehr erst noch lernen und die leicht übersehen werden, ist „Shared Space“ mit Kraft­fahr­zeugen nur bedingt geeignet. Letztlich funktio­niert ein Mitein­ander im Verkehr ohne viele Regeln eigentlich nur dann gut, wenn Kfz in der Minderheit sind und gegenüber dem Fuß- und Radverkehr nachrangig behandelt werden. (Olaf Dilling)