OVG Münster: Flankierende Maßnahmen ermöglichen Fahrradstraße
Juristen sind sehr an Texten orientiert. Dabei sagt ein Bild oft mehr als tausend Worte. Insbesondere dann, wenn es darum geht, das Potential eines Straßenabschnitts im Verkehrsnetz einzuschätzen: Dann ist es sehr aufschlussreich, sich vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Wenn das nicht möglich ist, sollte man zumindest mit einer Straßenkarte sowie mit Bildern und Videos die örtlichen Gegebenheiten und die Lage im Straßennetz möglichst anschaulich machen.
So ist es auch mit einer neuen Fahrradstraße in Essen, in der Rüttenscheider Straße, die ursprünglich als Teil eines Maßnahmenpakets zur Luftreinhaltung geplant wurde. Auch ihre Bedeutung lässt sich nur in Relation zum Straßennetz und zur Topografie Essens einschätzen. Sie erstreckt sich in Nord-Südrichtung südlich des Stadtzentrums vom Museum Folkwang im Norden bis zur A52 im Süden, hinter der sich ein großer Park an der Ruhr anschließt, in dem die Villa Hügel und die Krupp-Stiftung liegen. Die Straße ist durch viele Geschäfte und Restaurants geprägt und verläuft östlich der Messe direkt parallel zur Alfredstraße, die als B 224 den überörtlichen Verkehr bedient.
Hier ein Link zu Google-Maps zur Veranschaulichung.
Das Verkehrsaufkommen der Rüttenscheider Straße war vor Einrichtung der Fahrradstraße so hoch, so dass die Voraussetzungen der Anordnung nicht gegeben waren. Was kann eine Kommune dann machen: Eine Trasse eignet sich ideal als Fahrradstraße, aber das Kfz-Aufkommen ist zu hoch. Darf dann das, was bisher nicht passt, durch weitere Maßnahmen passend gemacht werden?
Eine Eilentscheidung des OVG Münster zur Rüttenscheider Straße ist insofern aufschlussreich. Denn die Stadt Essen hatte mehrere Einfahrtsverbote erlassen, die Abschnitte der Straße zu einer „unechten“ Einbahnstraße machten. Das heißt, dass das Verkehrszeichen 267 (Einfahrt verboten) ohne das für Einbahnstraßen typische Verkehrszeichen 220 angeordnet worden ist. Dadurch soll das Kfz-Aufkommen reduziert werden, da nach der Verwaltungsvorschrift zur StVO die Einrichtung von Fahrradstraßen auf Straßen von lediglich untergeordneter Bedeutung für den Kraftfahrzeugverkehr zulässig ist (weitere Fälle sind: hohe Netzbedeutung oder hohe Radverkehrsdichte oder zu erwartende hohe Radverkehrdichte).
Dies wird in technischen Regelwerken der Fachgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV), etwa der Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06) weiter dahingehend konkretisiert, dass eine für Fahrradstraßen zulässige Höchstmenge von 400 Kfz/h nicht überschritten werden darf. Leider sind diese technischen Regelwerke nicht öffentlich aufrufbar, die Voraussetzungen für Fahrradstraßen lassen sich aber auch dem instruktiven Praxisleitfaden für die Anlage von Fahrradstraßen des DiFU und der Bergischen Universität Wuppertal entnehmen.
Gegen die Fahrradstraße und die damit verbundenen Einfahrtsverbote hat ein Gewerbetreibender geklagt und beantragte zugleich die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen bekam er zunächst Recht. Daraufhin musste die Straßenverkehrsbehörde die „Einfahrt verboten“-Schilder wieder abräumen. Die Stadt erhob aber Beschwerde beim OVG Münster.
Dort bekam sie recht, zumindest vorerst im Eilverfahren. Das OVG sah es zumindest nicht als offensichtlich rechtswidrig an, dass die Stadt auf Grundlage des § 45 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 9 Satz 3 StVO Beschränkungen des Verkehr angeordnet hat. Dabei ließ das Gericht die Frage offen, ob das „Erfordernis einer qualifizierten Gefahrenlage auch für die Einrichtung von bloßen Verkehrsbeschränkungen an Fahrradstraßen gilt, deren Anordnung (…) mit einem Durchfahrverbot für sämtlichen Kfz-Verkehr verbunden ist. Denn die Behörde hatte sich selbst auf eine qualifizierte Gefahrenlage berufen.
Neben dem zu hohen Verkehrsaufkommens, das das Gericht auch als möglichen Grund für eine Gefahr für die Verkehrssicherheit in der Fahrradstraße wertete, kam hinzu, dass die Straße von der Unfallkommission auch als Unfallschwerpunkt ausgewiesen war. Dabei sei laut OVG unerheblich, dass es sich nicht lediglich um Unfälle mit Fahrradbeteiligung handeln würde. Die Verringerung des Durchgangsverkehrs und des gesamten Kfz-Aufkommens würde die Verkehrssicherheit insgesamt, also für alle Verkehrsarten, fördern.
Ein Grund für das Scheitern der Stadt in der ersten Instanz vor dem Verwaltungsgericht war, dass die Anordnungen keine ausreichende Begründung hatten. Diese konnte jedoch durch die Antragsgegnerin noch im laufenden Verfahren verschriftlicht, bzw ergänzt werden (vgl. § 114 Satz 2 VwGO). Die Verwaltungsbehörde könne ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Lediglich eine komplette erstmalige Ausübung des Ermessens oder eine Änderung der maßgeblichen Erwägungen sei ausgeschlossen.
Schließlich sind die Einfahrtsverbote auch verhältnismäßig: Um die Regelung klar und handhabbar zu halten, sei weder eine Beschränkung auf bestimmte Zeiten sinnvoll, noch seien Umwege von wenigen Minuten angesichts der dadurch geschützten hochrangigen Rechtsgüter der Verkehrssicherheit, Leben, Gesundheit und erheblicher Sachwerte, unangemessen.
Insgesamt ist es eine Entscheidung, die zeigt, dass das Straßenverkehrsrecht nicht nur situativ auf Gefahren reagieren muss, sondern im Rahmen eines Verkehrskonzepts proaktiv Bedingungen für die Verkehrslenkung und Bereitstellung von Infrastruktur für den Radverkehr schaffen kann.
Über diese Entscheidung hinausgehend ist die Frage interessant, ob Beschränkungen des Kfz-Verkehrs zur Einrichtung einer Fahrradstraße, die aufgrund § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 2 StVO lediglich einer einfachen Gefahrenlage bedarf, ihrerseits nicht auch aufgrund einer einfachen Gefahrenlage erlassen werden dürfen. Denn da Fahrradstraßen nach der StVO regelmäßig ein Verbot für Kfz beinhalten (es sei denn es ist per Zusatzzeichen ausgeschlossen), dürfte „a forteriori“ aufgrund der selben Voraussetzungen auch „nur“ eine Beschränkung des Kfz-Verkehrs möglich sein. Leider hat das OVG diese Frage ausdrücklich offen gelassen. (Olaf Dilling)